In welche Richtung entwickelt sich das Automobildesign? Diese Frage drängt sich auf, während mehr und mehr Elektromodelle auf die Straße kommen. Die schönsten Autos, die es jemals gab, meinen die einen. Zu klassisch, klagen andere. Audi-Chefdesigner Marc Lichte hat hier eine klare Position. Gemeinsam mit seinem Team hat er sich in den vergangenen Monaten intensiv mit dem Umbruch beschäftigt. In einem von Audi selbst veröffentlichten Interview gibt Lichte einen Ausblick, wie der technologische Wandel die Gestaltung von Audi-Modellen und auch ihren Designprozess auf den Kopf stellen wird.
„Wir stehen erst am Anfang“, sagt Lichte über die neuen Möglichkeiten beim Fahrzeugdesign. Mit der Elektromobilität habe sich das Auto in seiner Konstruktion bereits grundlegend verändert. Nicht mehr der Motor bilde das visuelle Kraftzentrum, sondern der große Batterieblock im Unterboden. Hinzu kommen die Möglichkeiten der Digitalisierung und vor allem das automatisierte Fahren. „Dadurch wird sich das Automobil in den nächsten Jahren grundlegend verändern. Ein Wandel, der sich wahrscheinlich nur mit dem Epochenwechsel vergleichen lässt, den die Ablösung der Kutsche durch das Auto markierte“, erklärt Lichte.
Was das konkret für das Automobildesign bedeutet, lasse sich ganz anschaulich erklären: „Wir haben das Automobil in seinen 135 Jahren eigentlich immer von außen nach innen gestaltet“, so Lichte. Sprich: Am Anfang stand die Frage, in welchem Fahrzeugsegment sich das Modell positionieren soll und welches Aggregat es antreibt. „Auf diese Weise kamen wir zum Karosseriekonzept und damit zum Exterieurdesign“. Und erst wenn das alles fix war, haben sich Designer mit der Gestaltung des Innenraums beschäftigt.
Und an diesem etablierten Prozess rütteln nun technologische Innovationen, nicht nur die Elektromobilität, sondern auch das autonome Fahren: „Mit dem automatisierten Fahren verändert sich ein elementarer Punkt, der bislang in allen Autos weltweit unabänderlich schien: Fahrende müssen in Zukunft nicht mehr permanent das Lenkrad in der Hand halten“, so Lichte. Und ohne aktive Fahraufgabe gewinnt die Person auf dem Fahrersitz neue Freiheiten und kann ihre Zeit selbst gestalten. „Arbeit, Unterhaltung oder Entspannung. All das ist möglich“, sagt Lichte.
Und gleichzeitig gewinnen die Designer bei Autos ohne Lenkrad und Pedalerie „auch neue Gestaltungsmöglichkeiten für das Interieur und – ganz banal – mehr Platz, ein besseres Raumgefühl“. Für die Insassen werde der Innenraum so zum persönlichen Freiraum, für Designer zum neuen gestalterischen Nukleus des Automobils. „Der Designprozess beginnt also mit der Frage, wer in einem neuen Modell Platz nehmen soll und was er dort alles machen möchte“, erklärt der Audi-Chefdesigner. „Eine Kehrtwende um 180 Grad: In Zukunft wird das Auto nicht mehr von außen nach innen gestaltet, sondern von innen nach außen.“
„Von innen nach außen“ sei nicht nur ein Slogan, sondern ein neues Grundverständnis von individueller Mobilität. Lichte nennt ein konkretes Beispiel zur Veranschaulichung: Man stelle sich eine klassische Luxuslimousine vor – über fünf Meter lang, getönte Scheiben und schwarz lackiert. „Wo sitzen hier die Kunden? Auf dem Fahrersitz? Nein, hinten rechts im Fond, sie nutzen vielleicht das Rear-Seat-Entertainment, während Chauffeure den Wagen lenken“. Wenn nun in Zukunft die Fahraufgabe wegfällt, „wäre es für Kunden doch viel attraktiver, gleich in der ersten Reihe Platz zu nehmen in einem gemütlichen Sessel mit freier Sicht nach außen oder auf ein großes Onboard-Entertainment, wie sie es sich auch für zuhause wünschen. Das ist für mich First Class Traveling“, sagt Lichte. Die Zeit im Auto werde zur „Quality Time. Keine Displays, Knöpfe und Schalter mehr, sondern ein großzügiger Raum mit Wohlfühlatmosphäre. So etwas wie der dritte Lebensraum, neben der Wohnung und dem Arbeitsplatz“.
Einen ersten Beleg, wie so ein Auto aussehen könnte, will Audi im September auf der IAA in München liefern mit einem seriennahen Showcar, dem Audi grandsphere concept. „Der Name sagt im Grunde schon alles“, sagt Lichte verheißungsvoll.
Quelle: Audi – Pressemitteilung vom 20.07.2021