Rob de Jong ist Referatsleiter für Luftqualität Mobilität beim Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP). In einem von Volkswagen veröffentlichten Interview spricht er über Lehren aus der Corona-Pandemie, klimafreundlichen Verkehr und die Verantwortung der Automobilbranche.
Corona bestimmt das Leben – Umweltfragen geraten in den Hintergrund. Bremst die Pandemie den Umbau des Verkehrssektors?
Ich hoffe nicht. An der Dringlichkeit des Klimaschutzes hat sich nichts geändert. Uns bleiben nur fünf bis zehn Jahre, um die Voraussetzungen für eine emissionsfreie Mobilität zu schaffen. Gelingt das nicht, wird sich die Luftqualität in den Städten drastisch verschlechtern und wir werden die Klimaziele des Pariser Abkommens verfehlen. Ich denke, wir sind uns einig, dass das nicht passieren darf.
Regierungen und Unternehmen konzentrieren sich auf die Krisenbewältigung. Steht der Klimaschutz da nicht zwangsläufig zurück?
Nicht wenn wir es richtig machen. In der Pandemie ist der globale Verkehr um bis zu 80 Prozent zurückgegangen. Es ist wie ein erzwungenes Experiment, das uns die Vorteile nachhaltiger Mobilität vor Augen führt. An vielen Orten hat sich die Luftqualität immens verbessert. Ich persönlich merke das daran, dass ich aus meinem Büro in Nairobi zum ersten Mal die Berge im Umland sehe. Viele Menschen erledigen ihre Arbeit aus dem Homeoffice. Das spart riesige Mengen an Emissionen. Städte schaffen in kürzester Zeit neue Infrastruktur für Fahrräder. Diese Erfahrungen sollten wir nutzen, um unsere Transportsysteme nachhaltiger zu gestalten. So schnell wie möglich.
Die meisten Klimaziele beziehen sich auf das Jahr 2050. Woher kommt der Zeitdruck?
Ein wichtiger Grund ist die lange Lebensdauer von Autos. Ein Fahrzeug, das heute zugelassen wird, bleibt in der Regel 20 Jahre auf der Straße – erst in einem Industriestaat, dann wird es typischerweise in ein Entwicklungsland verkauft. Autos, die heute auf die Straße kommen, bestimmen also die Emissionswerte für die nächsten zwei Jahrzehnte.
Welche Rolle spielt E-Mobilität, um die Ziele zu erreichen?
Elektroautos sind eine wichtige Säule für den Klimaschutz – allerdings nur eine Säule von dreien. Die anderen: leistungsfähige Systeme für den Massentransport und eine neue Architektur unserer Städte, um das Gehen und Radfahren zu fördern. Wir müssen unsere Städte so planen, dass die Menschen kurze Wege haben und Verkehr erst gar nicht entsteht. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir in der Nähe unserer Schulen und Einkaufsmöglichkeiten leben. Nur wenn diese drei Dinge zusammenkommen, sind die Klimaziele erreichbar.
Seit dem Corona-Ausbruch leidet der Massentransport unter besonders starken Rückgängen, weil viele Menschen eine Ansteckung fürchten.
Das ist ein gewaltiges Problem, denn viele Unternehmen des öffentlichen Verkehrs werden die Corona-Zeit mit den verringerten Einnahmen möglicherweise nicht überstehen. In Industrieländern können die Regierungen die Verluste vielleicht durch Hilfsprogramme auffangen. Aber in Entwicklungsländern ist das nicht bezahlbar.
Weltweit wollen Regierungen Billionen ausgeben, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Fehlt dieses Geld für den Klimaschutz?
Das muss nicht sein. Eine Metropole wie London zum Beispiel erhöht jedes Jahr die Ausgaben für die Straßeninfrastruktur – nur um mit dem Stau mitzuhalten. Was aber wäre, wenn jeder Arbeitnehmer nur einen Tag in der Woche von zuhause arbeiten würde? Der Verkehr würde deutlich zurückgehen und die Großstädte könnten Milliarden an Infrastruktur-Investitionen sparen. Dieses Geld steht dann für klimafreundliche Mobilität zur Verfügung.
„Entwicklungsländer müssen die Fehler der Industriestaaten vermeiden“
Sie leben und arbeiten in Kenia. Wie kann klimafreundliche Mobilität in Afrika aussehen?
Entwicklungsländer wie Kenia müssen die Fehler der Industriestaaten vermeiden und sofort auf nicht motorisierte Fortbewegung und auf E-Mobilität setzen. Das ist besonders wichtig, weil die Zahl der Autos in vielen Ländern stark wächst. In Kenia zum Beispiel verdoppelt sich die Flotte alle sieben bis acht Jahre. Für eine langsame, stufenweise Entwicklung bleibt keine Zeit.
Wie lassen sich Menschen in Entwicklungsländern davon überzeugen – nachdem der Westen jahrzehntelang auf Verbrennungsmotoren gesetzt hat?
Ich denke nicht, dass das Hauptproblem im Überzeugen besteht. Viele Entwicklungsländer sind sich der Fehler des Westens bewusst und wollen sie nicht wiederholen. Ihre Märkte sind oft sehr dynamisch und anpassungsfähig – der Wandel kann also klappen. Es gibt andere Herausforderungen, darunter die Finanzierung eines Wandels zu emissionsarmer und emissionsfreier Mobilität.
Können Sie ein Beispiel nennen?
In vielen afrikanischen Ländern sind Motorräder sehr beliebt. Oft werden sie als Taxi genutzt. Der Großteil dieser Maschinen ist alt und schmutzig. Teilweise brauchen sie so viel Treibstoff wie ein leichtes Nutzfahrzeug und stoßen so viel Feinstaub aus wie ein Lkw. Deshalb arbeiten wir am Konzept eines Elektro-Zweirads speziell zugeschnitten auf die Bedürfnisse des afrikanischen Marktes. Wir wollen die Regierungen überzeugen, benzingetriebene Zweiräder zu verbieten und nur noch Elektro-Räder zuzulassen. Das Problem: Ein Elektro-Zweirad ist in der Anschaffung teurer, sagen wir 1500 statt 1200 US-Dollar für ein benzingetriebenes Motorrad. Das rechnet sich zwar innerhalb eines halbes Jahres, weil das Fahrzeug keinen Treibstoff, kein Öl und keine Wartung braucht. Aber die Banken gewähren keine ausreichenden Kredite.
Wie lassen sich bessere Rahmenbedingungen schaffen?
Als UNEP arbeiten wir mit mehr als 60 Ländern daran, günstige Voraussetzungen für eine saubere Mobilität zu etablieren. Zum Beispiel beraten wir Regierungen, die die Besteuerung von Autos an den CO2-Ausstoß koppeln wollen. Einige Staaten haben damit die CO2-Bilanz der importierten Fahrzeuge um 20 Prozent verbessert, ohne auch nur einen Dollar an Steuereinnahmen zu verlieren.
„Wir brauchen eine gemeinsame Anstrengung von Politik, Unternehmen und Gesellschaft“
Welchen Beitrag erwarten Sie von den Autoherstellern?
Ich vermisse eine enge Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Regierungen. Es ist großartig, dass einzelne Hersteller Elektrofahrzeuge auf den Markt bringen und sich Klimaziele setzen. Aber was wir wirklich brauchen, ist eine gemeinsame Anstrengung von Politik, Unternehmen und Gesellschaft, um die CO2-Emissionen im Verkehrssektor auf null zu senken. Die weltweite Fahrzeugflotte wächst weiter – vor allem in Entwicklungsländern. Wir können es uns nicht leisten, dass dieses Wachstum mit Verbrennern stattfindet. Wir müssen gemeinsam regionale und globale Ziele für einen Wandel zu emissionsfreier Mobilität setzen, gefolgt von konkreten Aktionsplänen.
Wie stellen Sie sich die Zusammenarbeit vor? Sollen die Unternehmen Teil der internationalen Klimaverhandlungen werden?
Das vielleicht nicht, aber die Klimakonferenzen bieten eine gute Plattform für Gespräche. Die Regierungen kommen dort ohnehin zusammen. Warum soll man diese Chance nicht für einen Dialog mit den Unternehmen nutzen? Meine Erfahrung ist: Autohersteller mögen klare, langfristige Ziele, an denen sie ihre Strategie ausrichten können. Zum Beispiel könnten sie sich gemeinsam darauf einigen, nach 2030 keine Verbrenner mehr herzustellen. Allein werden möglicherweise nicht alle Staaten schnell genug vorankommen. Wir brauchen eine Klima-Partnerschaft von Regierungen und Autoherstellern.Coro
Was können die Unternehmen individuell tun?
Autohersteller sollten sich fragen, ob sie wirklich neue Produktionsstätten mit alter Technologie in Entwicklungsländern eröffnen wollen. Stattdessen sollten sie lieber in saubere Mobilität investieren. Darüber hinaus brauchen wir eine wirklich aggressive, globale Kampagne für die E-Mobilität. Es muss klar werden, dass viele Sorgen völlig unbegründet sind. Dazu könnten Pilotprojekte mit Elektrofahrzeugen beitragen. Leider gibt es Unternehmen, die die Verfügbarkeit ihrer Elektroautos im Interesse des Gewinns begrenzen. Sie haben lange Wartelisten für E-Fahrzeuge, aber nicht für Verbrenner.
Sie sprachen an, dass auch die Stadtplaner umdenken müssen. Was genau erwarten Sie?
Wir müssen die Städte nach den Bedürfnissen der Menschen gestalten und nicht nach den Anforderungen des Autoverkehrs. Positive Beispiele sind Kopenhagen, Amsterdam und zunehmend New York. Es geht nicht darum, die Autos zu verbannen – aber wir müssen unsere Mobilität rund um die Menschen statt um die Nutzung privater Autos planen. Entwicklungsländer haben die Chance, auf direktem Weg zu sauberen Lösungen zu kommen. In Nairobi zum Beispiel leben sechs Millionen Menschen – es gibt aber kein angemessenes öffentliches Verkehrssystem. 50 bis 60 Prozent der Einwohner gehen zu Fuß oder fahren mit dem Rad, obwohl es dafür wenig Infrastruktur gibt. Die Folge: Für 19-24-Jährige in Nairobi sind Verkehrsunfälle das größte Todesrisiko.
Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Wie sieht die Mobilität in Amsterdam und Nairobi im Jahr 2040 aus?
Ich denke, die Niederlande werden einen sehr nachhaltigen Verkehrssektor haben. Das Land macht einen exzellenten Job, gestaltet die Städte nach den Bedürfnissen der Menschen, verfügt über hervorragende öffentliche Verkehrsmittel und gehört zu den Vorreitern der E-Mobilität. Außerdem ist Amsterdam schon heute eine der Fahrradhauptstädte der Welt. Nairobi hat das Potenzial für einen nachhaltigen Verkehrssektor – viele Städte auf der Welt würden es begrüßen, wenn 50 Prozent ihrer Einwohner zu Fuß gehen und mit dem Rad fahren würden. Aber ein Mangel an Infrastruktur führt dazu, dass sich das schnell ändert. Der Motorisierungsgrad ist sehr hoch. Ohne gute Alternativen – guten Nahverkehr und gute Bedingungen für Fußgänger und Radfahrer – werden die Menschen verstärkt private Autos kaufen und nutzen.
Quelle: Volkswagen — Pressemitteilung vom 05.06.2020