„Das Jahr 2021 wird über die Zukunft der Industrie in Deutschland und Europa entscheiden: Wir stehen an einem Wendepunkt, der die Richtung der folgenden Dekaden vorgibt“, betonte Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), auf der digital durchgeführten VDA-Jahrespressekonferenz. Müller sagte, dass die gesamte deutsche Automobilindustrie die Corona-Entwicklung weiter mit großer Sorge sehe. Die Unternehmen täten alles, um das Infektionsrisiko in den Betrieben, in Produktion und Verwaltung, weiter zu reduzieren. Die Konzepte der Unternehmen seien erfolgreich, so Müller.
Die Autoindustrie setze nun darauf, dass die Impfstoffproduktion und die Umsetzung der Impfungen sehr schnell gesteigert werden, damit Deutschland zügig aus dieser Krise herauskommt. „Die Bürger, die Beschäftigten und die Unternehmen brauchen rasch eine verlässliche Perspektive“, so Deutschlands oberste Autolobbyistin. Die VDA-Präsidentin unterstreicht: „Wir gehen davon aus, dass das zweite Halbjahr 2021 eine Besserung bringen wird, wenn die Fortschritte beim Impfen so groß sind, dass die Pandemie im Alltag spürbar eingedämmt werden kann.“
Technische Innovationen als Antwort auf Klimasorgen
Müller wies darauf hin, dass die Transformation der Branche trotz Corona intensiv vorangetrieben werde. Bis 2025 investiere die deutsche Automobilindustrie insgesamt 150 Milliarden Euro in Zukunftstechnologien, vor allem Elektromobilität und Digitalisierung. Kritisch äußerte sich die VDA-Präsidenten zu Überlegungen, Klimaziele durch einen fortgesetzten Lockdown oder immer neue Verbote zu erreichen: „Wir können und wollen die Klimaziele doch nicht ausgerechnet dadurch erreichen, dass wir weite Teile des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens abschalten. Die Schließung von Betrieben ist auch aus Klimagründen keine Perspektive für die Menschen, nicht in Deutschland und auch nicht in Europa“, sagte sie. „Die Antwort auf die Klimasorgen sind nicht immer neue Verbote und schon gar nicht der Verzicht auf Wachstum und Wohlstand, der auch unsere gesellschaftliche Stabilität gefährden würde, sondern die technische Innovation, mit der wir klimaneutrale Mobilität erreichen können.“ Europa brauche diesen Innovationswettbewerb und eine aktive Industriepolitik, um die Klimaziele zu erreichen und gleichzeitig Wachstum und Beschäftigung zu sichern.
Die Automobilindustrie arbeite bereits an solchen neuen Angeboten und Alternativen und bringe sie auch auf die Straße: „Wir machen die neue Mobilität, von der alle reden. Und da haben wir als Branche sehr viel erreicht. Wir sind Europameister bei E-Mobilität. Und bei den Patenten im Bereich E-Mobilität ist die deutsche Automobilindustrie schon weit vorne.“ Auch in den anderen Feldern gehöre die deutsche Autoindustrie zur Spitzengruppe: „bei Forschung und Entwicklung, in den Bereichen Antrieb, Batterie, Hybrid, bei der Digitalisierung, dem autonomen Fahren, bei der Verbesserung des Kolbenmotors und der Senkung von Abgaswerten.“ Müller habe bewusst den Begriff Kolbenmotor gewählt: „Denn nicht die Verbrennung ist das Problem, sondern der Kraftstoff und seine Herkunft, deshalb benötigen wir auch E-Fuels.“ Die deutsche Industrie habe das Auto erfunden, „und jetzt erfinden wir es neu.“
Zu wichtigen und richtigen Schritten gehören Müller zufolge auch neue Handelsabkommen wie mit dem Vereinigten Königreich oder das vereinbarte Investitionsabkommen zwischen der EU und China. Durch die neue chinesische Handelszone im asiatischen Raum und durch die Dominanz US-amerikanischer Plattformindustrien allerdings müsse sich Europa im internationalen Wettbewerb besser aufstellen, so Müller: „Der Maßstab für alle wirtschaftspolitischen Entscheidungen muss immer der Weltmarkt sein.“
VDA weiterhin für E-Fuels und Wasserstoff
Hier komme gerade der EU-Kommission eine große Verantwortung zu: „Die neuen Handelsregime eröffnen neue Chancen, die wir aber nutzen müssen. Und dazu braucht es gute Rahmenbedingungen für unsere Industrie, die vor allem in Brüssel gesetzt werden“, so die VDA-Präsidentin. Aktuell laufe die Entwicklung allerdings in die falsche Richtung. Müller verwies auf die neue EU-Mobilitätsstrategie, die bei fast allen Verkehrsträgern sehr stark auf E-Mobilität setze, während derzeit ein europaweites Ladenetz fehle: „75 Prozent der Ladeinfrastruktur in der EU finden wir aktuell in nur drei Staaten – Niederlande, Deutschland, Frankreich – und auch nur für Pkw. Das Lkw-Netz fehlt fast völlig.“
Die EU-Mobilitätsstrategie müsse in den nächsten Monaten erweitert werden – um synthetische Kraftstoffe und den Ausbau einer Wasserstoffinfrastruktur, damit der Verkehr weiter fließen könne, findet der VDA. „Und wir müssen erwarten, dass die EU-Kommission nicht nur Ziele formuliert, sondern auch die Umsetzung in die Hand nimmt. Sonst nützen die Handelsabkommen nichts“, so Hildegard Müller.
Müller verwies darauf, dass in den nächsten Monaten die Gesetze und Verordnungen zum Green Deal ausgearbeitet werden. Sie hoffe, dass Deutschland hier trotz des beginnenden Wahlkampfes aktiv wird. Die Diskussionen um die Verschärfung der Klimaziele, sowohl des allgemeinen Klimaziels von 55 Prozent als auch eine mögliche Verschärfung der Flottengrenzwerte, können Müller zufolge „nur dann sinnvoll geführt werden, wenn endlich durch die EU die zugesagte ehrliche und sorgfältige Abschätzung auch aller ökonomischen und sozialen Folgen vorliegt und wenn seitens der EU auch die notwendige Ladeinfrastruktur für E-Fahrzeuge geschaffen wird.“
Die EU-Kommission müsse dem VDA zufolge auch ihren Euro-7-Vorschlag überarbeiten. „Wenn ein neues Fahrzeug auch im Winter bei Start oder beim Ziehen eines Anhängers am Berg die gleichen Grenzwerte einhalten muss wie bei Tempo 50 auf gerader Strecke“, komme das „faktisch einem Verbot des Kolbenmotors gleich. Diese Idee zielt auf die Reduktion von Stickoxiden, sorgt aber praktisch für deutlich mehr Stickoxide und CO2, weil die alten Fahrzeuge länger im Markt bleiben werden, wenn die neuen praktisch verboten sind.“ Da müsse „noch mal neu nachgedacht werden, damit wir die Klimaziele auch wirklich gemeinsam erreichen können“, unterstrich die VDA-Präsidentin.
VDA fordert bessere Standortbedingungen in Deutschland
Müller wies auch darauf hin, dass die Standortbedingungen in Deutschland dringend verbessert werden müssten. Die Arbeitskosten und die Ertragssteuerbelastungen seien in Deutschland überdurchschnittlich hoch. Außerdem habe Deutschland – nach dem Vereinigten Königreich – die höchsten Energiekosten in ganz Europa. Das Breitband-Internet sei hierzulande schlechter als in Thailand, Rumänien, Ungarn oder Spanien. Ähnlich verbesserungsbedürftig sei die Lage beim Mobilfunk. Hinzu komme eine ausgeprägte Bürokratie und eine fehlende Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, die Abläufe verzögere und damit auf Kosten der Produktivität gehe.
Müller betonte, dass die deutsche Automobilindustrie besser für die Zukunft gerüstet sei als der Standort Deutschland. Daher sollte die Politik die notwendigen Schritte unternehmen, um Produktion und Beschäftigung in Deutschland zu halten und zu stärken, so die VDA-Präsidentin. „Das große Thema des Jahres 2021 ist deshalb der Standort Deutschland und wie wir ihn wieder besser machen können.“
Der VDA erwartet für 2021 ein Wachstum des deutschen Marktes gegenüber dem Vorjahr von rund 8 Prozent auf 3,15 Millionen Pkw. Allerdings wies Müller darauf hin, dass das Vorjahresniveau mit 2,9 Millionen Pkw (2020) sehr niedrig gewesen sei. Der Pkw-Inlandsmarkt werde 2021 weiterhin noch deutlich unter den rund 3,5 Millionen Neuzulassungen der Jahre 2017 bis 2019 liegen. Bei den schweren Nutzfahrzeugen werde ein Wachstum von 15 Prozent auf gut 78.000 Fahrzeuge erwartet.
Die Coronakrise habe sich 2020 auch auf den internationalen Märkten massiv ausgewirkt. In nahezu allen Ländern der Welt gingen die Verkäufe teils drastisch zurück. Für 2021 sei von einer langsamen Verbesserung der Marktlage auszugehen. „Die Rückgänge des Jahres 2020 werden aber nicht wettgemacht. Für eine Entwarnung gibt es daher leider keine Grundlage“, so Müller auch mit besonderem Blick auf die Zulieferindustrie.
Der Fahrzeugabsatz in den jeweiligen Märkten dürfte sich – mit Ausnahme Chinas – nur langsam dem jeweiligen Vorkrisenniveau annähern. Für Europa rechnet der VDA im Jahr 2021 mit einem Plus von 12 Prozent auf 13,4 Millionen Pkw. In den USA dürfte der Absatz 2021 um 9 Prozent auf 15,8 Millionen Light Vehicles zulegen. Der chinesische Pkw-Markt werde dagegen mit 21,4 Millionen Einheiten (+8 Prozent) bereits wieder das Vor-Corona-Niveau übersteigen. Der Pkw-Weltmarkt dürfte damit – nach einem Einbruch um 15 Prozent im vergangenen Jahr – 2021 um 9 Prozent auf 73,9 Millionen Neuwagen zulegen. Aber auch dieses Absatzvolumen liege noch deutlich unter dem Vor-Corona-Niveau.
Quelle: VDA – Pressemitteilung vom 26.01.2021