Als sich mein Finger dem mittleren Display nähert, erscheint „Genf, Schweiz“ auf dem Bildschirm. Der Polestar Precept meint, er stehe auf dem Genfer Autosalon 2020. Dabei befinden wir uns in einem Fotostudio in Hamburg-Winterhude. In Genf sollte der Gran Turismo seinen groĂźen Auftritt haben. Die Messe ist eine wichtige BĂĽhne fĂĽr eine so junge Marke wie Polestar. Doch CEO Thomas Ingenlath musste umdisponieren und sein drittes Modell per Video vorstellen.
Jetzt dĂĽrfen Journalisten einen ersten Blick auf das Elektroauto werfen. Es steht auf einer komplett neu entwickelten Plattform. Mit einem Radstand von 3,1 Metern ist extrem viel Platz fĂĽr die Insassen auf den vier Einzelsitzen. Was allerdings als erstes ins Auge fällt, sind die TĂĽren. Die HintertĂĽren öffnen gegenläufig. Es sind so genannte SelbstmördertĂĽren. In den frĂĽhen Tagen der Autoindustrie, weit vor dem Sicherheitsgurt und sicheren Verriegelungen, bezahlten Passagiere mit ihrem Leben, wenn sie während der Fahrt die TĂĽr öffneten und der Fahrtwind diese komplett aufriss. Beim Versuch die TĂĽr festzuhalten bzw. zu schlieĂźen, wurden die Insassen aus dem Fahrzeug gerissen. Lange her, das lässt sich heute mit Sicherheit vermeiden. Doch Polestar muss die Zulassungsbehörden davon ĂĽberzeugen. Auf meine Frage: „Soll der Wagen mit diesen TĂĽren auf den Markt kommen?„, nickt Pressesprecherin Anna Wesolowski kräftig mit dem Kopf. Wann der Precept (dt. Gebot, Grundsatz) verkauft wird, kann sie nicht beantworten. Crash Tests und Zulassungen stehen noch aus. AuĂźerdem will der chinesische Mutterkonzern Geely erst ein komplett neues Werk fĂĽr den Precept bauen. Vielleicht wird es 2023 etwas mit dem dritten Modell nach dem Plug-In-Hybriden (Polestar 1) und der Limousine (Polestar 2).
Sensoren in der Smart Zone
Der Precept vereint smarte Sensoren mit einem nachhaltigen Innenraum. Mit „sehen statt atmen“, beschreibt Thomas Ingenlath die Front. Wo frĂĽher Lufteinlässe fĂĽr den Verbrennungsmotor waren, steht heute „Smart Zone“. Die beiden Radarsensoren und die Kamera sind mit ihren technischen Werten fĂĽr jedermann beschriftet. Im Dach thront ein Lidar-Sensor. Der Precept zeigt deutlich, ich fahre auch allein – zumindest im Level 3, eventuell sogar in Level 4. Im Innenraum ĂĽberwacht eine Kamera die Augenbewegung des Fahrers, um MĂĽdigkeit und Ablenkungen zu erkennen. Der Fahrer schaut auf eine schmales (22 cm Diagonale) Display. Auf ein Headup-Display verzichtet Polestar. Vieles wird der Fahrer ĂĽber Sprache steuern. Auch in diesem Fahrzeug setzt das Unternehmen auf Android Automotive als Betriebssystem fĂĽr das Infotainment. Während der Ladepausen ist Videostreaming gestattet. Der Display im Hochkant-Format hat eine Diagonale von 40 cm – nicht unbedingt Kino-Format, aber fĂĽr die Folge einer Serie wird es reichen. Wie lange eine Ladepause ausfällt, kann Wesolowski noch nicht sagen. Sämtliche technische Werte wie Motorleistung, Batteriekapazität und Reichweite stehen noch nicht fest. Das Show Car hat noch nicht mal einen Ladeanschluss. Hinten links sieht man nur ein LED-Band an dem „Charging Status“ steht. Das Licht wird später den Ladezustand der Batterie anzeigen.
Ein- und Aussteigen neu erleben
Das Äußere ist auf Aerodynamik getrimmt. Dazu gehören auch die kleinen Kameras statt klassischer Außenspiegel. Der Fahrer blickt also auf Monitore in den beiden Türen. Auch der Rückspiegel in der Mitte ist nicht aus Glas, sondern besteht aus einem Display. Der klassische Blick nach hinten ist verbaut, darum muss eine Kameralinse in der Heckklappe das Bild liefern. Neben dem großzügigen Platzangebot trägt das Glasdach zum positiven Raumgefühl bei. Ein- und Aussteigen ist dank der fehlenden B-Säulen für alle vier Insassen ein großartiges Erlebnis. Der Boden ist komplett flach, auch hinten gibt es keinen Tunnel zwischen den Sitzen. Die Passagiere im Fonds haben eine eigene Mediensteuerung (Drehkopf) und kleine Lautsprecher an den Kopfstützen. Wie viel Platz der Kofferraum bietet bleibt unbeantwortet. Der Deckel lässt sich beim Show Car nicht öffnen.
NatĂĽrliche Materialien im Innenraum
Die Kopfstützen sind mit recyceltem Kork gefüllt. Die Sitzbezüge sind aus einem Kunststoffgarn im 3D-Verfahren gewebt, so dass kaum Verschnitt bei der Herstellung anfällt. Das Garn besteht aus recycelten PET-Flaschen. Nylon 6 wie es in Fischernetzen vorkommt, ist im Bodenteppich verarbeitet. Etliche Elemente in den Türen und Rückseiten der Sitze sehen aus und fühlen sich an wie Karbon. Doch das Schweizer Unternehmen Bcomp hat aus Flachs ein extrem stabiles aber sehr leichtes Material entwickelt. Polestar verzichtet auf Chrome und nutzt rund 80 weniger Plastik als in vergleichbaren Fahrzeugen. Nachhaltigkeit ist für das Unternehmen wichtig. Bis 2030 sollen alle Fahrzeuge klimaneutral ausgeliefert werden. Dazu ermittelt der Hersteller die CO2-Menge, die in der Herstellung anfällt und informiert seine Kunden darüber.
Bei aller Vernunft behält Polestar den Fahrspaß im Blick. Das Show Car steht auf 22 Zoll-Reifen, mit einem kleinen Querschnittsverhältnis. Das schont nicht gerade die Reichweite und sorgt für ein sportliches Gefühl bei den Insassen. Man kann auch sagen: Sie werden jede Bodenwelle spüren. Aber das ist Geschmackssache. Eine Luftfederung hilft hier, doch aufgrund seiner Rennsportvergangenheit setzt Polestar gern auf Stoßdämpfer von Öhlins mit Doppelflussventil. Es ist aber noch vollkommen unklar, ob das beim Precept auch so sein wird. Klar ist nur eins: In engen Parklücken wird man die vier Türen nicht komplett öffnen können. Da müssen die hinteren Insassen wohl vor dem Einparken aussteigen.