Das US-amerikanische Insurance Institute for Highway Safety (IIHS) hat ein neues Programm zur Sicherheitsbewertung autonomer Fahrfunktionen eingeführt. Erste Bewertungen haben nun gezeigt, dass die Mehrzahl der getesteten Fahrzeuge mit Fahrassistenzfunktionen, darunter auch Elektroautos, hinsichtlich der Sicherheit nicht ausreichend ausgestattet sind, so das IIHS in einer aktuellen Mitteilung.
Von den ersten 14 getesteten Systemen der Marken BMW, Ford, General Motors, Genesis, Lexus, Mercedes-Benz, Nissan, Tesla und Volvo erhält nur eines eine akzeptable Bewertung, nämlich das im Lexus LS erhältliche Teammate-System. Zwei weitere Systeme, die Automatisierungssysteme des GMC Sierra und Nissan Ariya, wurden als grenzwertig eingestuft, während die verbleibenden elf ein schlechtes Ergebnis bekamen.
Dazu gehören auch die alternativen Assistenzsysteme, die im Lexus LS und im Nissan Ariya erhältlich sind, sowie die Systeme des Ford Mustang Mach-E, des Genesis G90, der Mercedes-Benz C-Klasse Limousine, des Tesla Model 3 und des Volvo S90. In einigen Fällen wurden dabei sogar mehrere Versionen der erhältlichen Fahrassistenzsysteme für diese Modelle als schlecht eingestuft. Getestet wurden jeweils bestimmte Fahrzeugmodelle, die Assistenzsysteme werden jedoch oft in mehreren Modellen der Hersteller eingesetzt.
Was die Assistenzsysteme unsicher macht
David Harkey, der Präsident von IIHS, übt Kritik daran, dass die meisten Systeme keine ausreichenden Maßnahmen beinhalteten, um Missbrauch zu verhindern und Fahrende davor zu bewahren, den Fokus auf das Geschehen auf der Straße zu verlieren.
“Einige Fahrer mögen denken, dass die Teilautomatisierung lange Fahrten einfacher macht, aber es gibt kaum Beweise dafür, dass sie das Fahren sicherer macht. Wie viele aufsehenerregende Unfälle gezeigt haben, kann die Automatisierung auch neue Risiken mit sich bringen, wenn die Systeme nicht über entsprechende Sicherheitsvorkehrungen verfügen.” – David Harkey, Präsident von IIHS
Zu diesen aufsehenerregenden Unfällen gehören auch solche, die mit Teslas Autopilot in den letzten Jahren passierten. Allein in den USA gab es in den vergangenen Jahren 17 Tote bei 736 Unfällen. Auch beim Test des IIHS schnitt Tesla unzureichend ab, jedoch verwendeten die von dem IIHS bewerteten Systeme der Marke eine Software, die vor dem jüngsten Rückruf im Dezember 2023 entwickelt wurde.
Automatisiert ist nicht gleich selbstfahrend
Eine Ursache für die Fehlnutzung vieler automatisierter Fahrzeuge und damit für Unfälle und Schäden sieht das IIHS in der Unklarheit von Bezeichnungen. Automatisierte Fahrzeuge werden üblicherweise nach der SAE-Skala (Society of Automotive Engineers) eingestuft zwischen Level 0 (keine Automatisierung) und Level 5 (vollautonomes Fahren). Je nach Automatisierungsgrad haben Fahrer:innen hinter dem Steuer verschiedene Freiheiten und Pflichten.
Im Level 2 beispielsweise, was derzeit dem durchschnittlichen Level der meisten Fahrassistenzsysteme entspricht, gehören adaptive Geschwindigkeitsregelungen, die Fahrspurzentrierung, ein Spurwechsel- oder Parkassistent sowie verschiedene andere Fahrassistenzfunktionen bereits zur Standardausstattung. Mittels komplexer Sensorik, die Kameras, Radar- und LiDAR-Technologien umfasst, können Fahrzeuge ihre Umgebung wahrnehmen und sich eigenständig in bestimmten Situation bewegen.
Im Level 2 muss die fahrende Person jedoch zu jeder Zeit das Steuer übernehmen können, wenn diese bestimmte Situation endet oder eine gefährliche Situation nicht automatisch erkannt wird. Genau darin liegt oft das Missverständnis: Fahrzeuge mit teilweiser Automatisierung sind nicht selbstfahrend. Die fehlerhafte Erwartungshaltung, die Nutzer:innen oft haben, liege dabei, so das IIHS, manchmal auch an den Bezeichnung, die Autohersteller verwenden und die darauf schließen ließen, dass ihre Systeme selbstfahrend sind – wie etwa das “Autopilot” genannte System von Tesla.
Mangelnde Aufmerksamkeit als Unfallursache
Da automatisierte Fahrassistenzsysteme nicht selbstfahrend sind, müssen Fahrer:innen nach wie vor ihre volle Aufmerksamkeit dem Verkehr widmen, um das Fahrzeug zu kontrollieren und im Zweifelsfall übernehmen zu können. Daher verfügen die meisten teilautomatisierten Systeme über Sicherheitsvorkehrungen, die die Konzentration der Fahrer:innen sicherstellen soll. Die Tests des IIHS zeigen jedoch, dass diese Mechanismen noch nicht gut genug funktionieren.
Alexandra Mueller zufolge, die die Entwicklung des Programms leitete, variierten die Mängel von System zu System.
“Viele Fahrzeuge überwachen nicht ausreichend, ob der Fahrer auf die Straße schaut oder bereit ist, die Kontrolle zu übernehmen. Vielen fehlt es an Aufmerksamkeitserinnerungen, die früh genug kommen und eindringlich genug sind, um einen Fahrer, der abschweift, zu wecken. Viele können benutzt werden, obwohl die Insassen nicht angeschnallt sind oder wenn andere wichtige Sicherheitsfunktionen ausgeschaltet sind.” – Alexandra Mueller, Senior Research Scientist des IIHS
Dem IIHS zufolge sei es derzeit möglich, automatisierte Systeme zu nutzen, auch wenn beispielsweise die automatische Notbremsung ausgeschaltet ist oder die Sicherheitsgurte nicht angelegt sind. Dies erhöhe das Risiko zusätzlich. Außerdem rät das Institut den Herstellern zur Umsetzung von Sicherheitsvorkehrungen, die Missbrauch und längere Unaufmerksamkeiten reduzieren.
Wie testet das IIHS die Systemsicherheit?
Die Punktevergabe der Tests erfolge nach Angaben des Instituts in einer Reihe von Versuchen. Dabei werden einige Leistungsbereiche stärker gewichtet als andere. Die Bewertungen der Fahrassistenzsysteme können aber über die Zeit auch angepasst werden, beispielsweise durch Änderungen an der Software vonseiten der Hersteller.
Wenn möglich, werden die Tests auf einer geschlossenen Teststrecke durchgeführt. Andernfalls, wenn die Tests auf öffentlichen Straßen durchgeführt werden müssen, überwacht eine zweite mitarbeitende Person des IIHS die Fahrumgebung und die Fahrzeugsysteme vom Beifahrersitz aus.
Ãœberwachung der Fahrer:innen
Fahrassistenzsysteme sollten erkennen können, ob die Augen der fahrenden Person auf die Straße gerichtet sind, ob die Hände am Lenkrad liegen und ob sie bereit sind, es bei Bedarf zu übernehmen. Um diese Fähigkeit zu bewerten, wurde die Fahrzeugreaktion geprüft, wenn die Linse der auf die fahrende Person gerichteten Kamera oder das Gesicht verdeckt ist, die Person nach unten schaut oder die Hände nicht am Lenkrad liegen.
Keines der 14 Systeme erfüllte alle Anforderungen des IIHS, obwohl die Ford-Systeme BlueCruise und Adaptive Cruise Control mit Stop & Go und Spurhalteassistent ihnen sehr nahe kamen. Sie gaben sofort eine Warnung aus, wenn beispielsweise das Gesicht oder die Kameralinse verdeckt waren, erkannten aber nicht, wenn die Hände mit einer anderen Aufgabe beschäftigt waren. Das System von BMW reagierte nicht auf eine verdeckte Kameralinse oder ein verdecktes Gesicht während das System von Mercedes-Benz keine Kamera zur Überwachung hat. Beide Fahrzeuge waren jedoch in der Lage zu erkennen, wenn die Hände der fahrenden Person nicht auf dem Lenkrad lagen.
Aufmerksamkeitserinnerungen
Sollte das Fahrzeug schließlich bemerken, dass die fahrende Person unaufmerksam ist, die Augen nicht auf die Straße richtet oder nicht bereit ist, das Lenkrad zu übernehmen, so sollte es idealerweise zwei verschiedene Warnungen auslösen: akustisch und optisch. Außerdem sei bei anhaltender Unaufmerksamkeit ein dritter Warnmodus oder ein Notfallverfahren mit automatisierter Bremsung notwendig, so das IIHS.
Diese Anforderungen wurden von dem System Lexus Teammate, beiden Ford-Systemen und dem GM Super Cruise erfüllt. Als die fahrende Person im IIHS-Test beispielsweise absichtlich von der Straße wegschaute und einen Schaumstoffblock in der Größe eines Smartphones in beiden Händen hielt, begann Teammate nach vier Sekunden mit akustischen und optischen Warnungen und nach 16 Sekunden mit einer Notbremsung.
Fast genauso gut schnitten auch die Systeme Nissan ProPILOT Assist (hands-on) und ProPILOT Assist 2.0 (hands-free) sowie Tesla Full Self-Driving (FSD) ab. Das hands-on System von Nissan beispielsweise gab nach etwa sechs Sekunden ein akustisches und ein visuelles Warnsignal ab, aber eine dritte Art von Warnsignal erst nach etwa 21 Sekunden, als es die Bremsen betätigte. Sieben andere Systeme lieferten nicht einmal innerhalb der ersten 15 Sekunden die akustische und optische Warnung.
Notfallverfahren
Reagiert die fahrende Person nicht, so muss ein teilautomatisiertes System über ein geeignetes Notfallverfahren verfügen, um die Gefahr für Personen im Fahrzeug sowie andere Verkehrsteilnehmer:innen zu minimieren. Das Abbremsverfahren sollte spätestens 35 Sekunden nach bestehender Unaufmerksamkeit der fahrenden Person erfolgen, denn wer die Warnungen so lange ignoriert, ist entweder in Not oder versucht, das System zu missbrauchen. Daher sollte das System für die Ansprüche des IIHS eine SOS-Nachricht an den Rettungsdienst oder eine Hilfezentrale senden und die fahrende Person sollte daran gehindert werden, die Automatisierung für den Rest der Fahrt erneut zu starten.
Von allen getesteten Systemen erfüllte nur das System von GM alle diese Anforderungen. Fünf Systeme verfügen über zwei der drei Notfallfunktionen und fünf weitere lediglich über eine. Die drei weiteren Systeme ergriffen keine Notfallmaßnahmen.
Entscheidungsbeteiligung
Um sicherzugehen, dass die fahrende Person weiterhin an der Entscheidungsfindung des Fahrzeugs beteiligt bleibt, ohne gedanklich abzuschalten, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Alle Fahrspurwechsel sollten beispielsweise von der fahrenden Person eingeleitet oder bestätigt werden. Außerdem sollte sich die Spurhaltefunktion nicht automatisch abschalten, wenn manuell in die Lenkung eingegriffen wird, da dies Fahrer:innen davon abhalten kann, sich weiterhin aktiv am Fahren zu beteiligen.
Dabei haben dem Bericht des IIHS zufolge mehr Systeme gut abgeschnitten als in allen anderen. Nur die Assistenzsysteme von GM und Tesla führten einen Spurwechsel ohne Zustimmung der fahrenden Person durch und schalteten die Fahrspurzentrierung bei manueller Lenkung aus.
Sicherheitsfunktionen
Unfälle passieren, ob ohne Fahrassistenzsystemen oder mit. Daher ist es wichtig, bewährte Sicherheitsfunktionen bei der Nutzung der Automatisierungen beizubehalten, wie beispielsweise Sicherheitsgurte, ein automatisches Notbremssystem (AEB) oder den Spurhalteassistent.
Um daher im Test des IIHS eine gute Bewertung in dieser Kategorie zu erhalten, sollte sich ein teilautomatisiertes System bei ausgeschalteter Notbrems- oder Spurhaltefunktion gar nicht erst einschalten und ebenso wenig, wenn die fahrende Person nicht angeschnallt ist. Wenn das System bereits in Betrieb ist und der Sicherheitsgurt geöffnet wird, sollte es sofort mit den Aufmerksamkeitserinnerungen beginnen. Außerdem dürfe es dem IIHS zufolge nicht möglich sein, AEB oder den Spurhalteassistenten während der aktivierten Automatisierung auszuschalten.
Die Systeme ProPILOT Assist 2.0, Lexus Teammate und GM Super Cruise sind die einzigen, die alle diese Anforderungen erfüllen. Der ProPILOT Assist und das System von BMW kommen dem nahe, aber beide Fahrassistenzmodi deaktivieren sich ohne Warnung, wenn eine wichtige Sicherheitsfunktion deaktiviert wird. Die meisten anderen Systeme erfüllen die Anforderungen für mehrere Sicherheitsfunktionen nicht.
Trotz aller Mängel bleibt Hoffnung
Obgleich die Ergebnisse, so Harkey, besorgniserregend seien, gebe es einen Silberstreif am Horizont, wenn man die Leistung aller Fahrzeuge als Ganzes betrachte:
“Kein einziges System hat durchweg gut abgeschnitten, aber in jeder Kategorie hat mindestens ein System gut abgeschnitten. Das bedeutet, dass die Korrekturen leicht verfügbar sind und in einigen Fällen mit einem einfachen Software-Update erreicht werden können.” – David Harkey
Quelle: IIHS – First partial driving automation safeguard ratings show industry has work to do