Mercedes hat bereits im Mai 2022 angekündigt, sich verstärkt auf das Luxussegment konzentrieren, das Produktportfolio aufwerten und den Weg in die vollelektrische Zukunft beschleunigen zu wollen. Ziel sei eine strukturell höhere Profitabilität. Das Unternehmen plane, mehr als 75 Prozent der Investitionen für die Entwicklung von Fahrzeugen in den profitabelsten Marktsegmenten zu tätigen und den Absatzanteil des Luxus-Segments bis 2026 um rund 60 Prozent zu steigern. Die Fokussierung auf das obere Ende des Marktes soll auch in herausfordernden Marktbedingungen starke finanzielle Ergebnisse ermöglichen, so die Stuttgarter. Helfen soll dabei die im Mai 2023 erfolgte Umstellung auf das Agenturmodell, einer Art des Direktvertriebs. Darüber hinaus hat der Stuttgarter Autobauer verkündet, seine eigenen Niederlassungen in Deutschland verkaufen zu wollen, um sich von kostenintensiven Vertriebsstrukturen in der Bilanz zu lösen.
Als ein weiterer Teil der Zukunftsstrategie möchte Mercedes bis zur Mitte des Jahrzehnts mehrere neue Plattformen einführen. Der Start erfolgt 2025 mit der MMA-Plattform, die erstmals das umfassende Betriebssystem MB.OS mit dem KI-gestützten MBUX Virtual Assistant integrieren werde. Der neue CLA soll als erstes Modell mit der neuen Technologie debütieren. Er wurde bereits im Herbst letzten Jahres als Konzeptauto auf der IAA vorgestellt und feierte auf der Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas Anfang Januar seine Nordamerika-Premiere. Weitere Modelle, darunter der CLA Shooting Brake sowie die SUVs GLA und GLB, sollen folgen.
MB.OS geht auf individuelle Bedürfnisse der Kunden ein
„Durch Fortschritte in der künstlichen Intelligenz wird der Mercedes-Benz von morgen seine Fahrerin und seinen Fahrer kennen wie nie zuvor. Sie wird das Leben unserer Kundinnen und Kunden verbessern und bereichern – in ihrem Fahrzeug und auch in anderen Bereichen. Wir haben auf diesem Weg bereits große Fortschritte gemacht”, so der Mercedes-Chefentwickler Markus Schäfer (CTO) laut einer offiziellen Pressemitteilung. Gemeint ist der neue sogenannte MBUX Virtual Assistant, nach eigenen Angaben “die bislang menschenähnlichste Schnittstelle mit einem Mercedes-Benz“. Basierend auf MB.OS präsentiere diese ein neues Design mit natürlicher und empathischer Interaktion. Mit vier verschiedenen Emotionen gehe der virtuelle Assistent auf die Bedürfnisse der Kunden ein, indem er generative KI und proaktive Intelligenz nutzt. In einem Interview mit Computer Bild erklärt Markus Schäfer, Chefentwickler von Mercedes, die Hintergründe.
Die Entwicklung von MB.OS erforderte einen beträchtlichen Aufwand, mit etwa 1000 neu eingestellten Softwarespezialisten allein in Sindelfingen. Doch laut Markus Schäfer steht das Kundenerlebnis im Mittelpunkt dieser Investition. Das neue Betriebssystem ermögliche es, Fahrzeugerlebnisse auf eine völlig neue Art und Weise zu gestalten. Es integriere verschiedene Domänen im Fahrzeug und gewähre dabei vollen Zugriff auf sämtliche Steuergeräte. Ein entscheidender Vorteil von MB.OS liege laut Schäfer darin, dass es eine ganzheitliche Kontrolle über unterschiedliche Fahrzeugbereiche ermöglicht, darunter den Antrieb, die Hinterachse und sogar den Lenkwinkel.
Auf die Frage, warum Mercedes sich für ein eigenes Betriebssystem entschieden hat, anstatt auf bereits vorhandene Lösungen wie Android Automotive zurückzugreifen, betont der CTO das Streben nach einem einzigartigen Kundenerlebnis. MB.OS ermögliche es, Erlebnisse auf eine Weise zu generieren, die mit externen Betriebssystemen nicht möglich wäre.
KI darf dem Nutzer “nicht auf die Nerven gehen”
Die Einführung von MB.OS markiert einen bedeutenden Schritt für Mercedes. In Verbindung mit der neuen Mercedes-Modular-Architecture-Plattform (MMA) wird erwartet, dass diese Innovationen die Zukunft der Mercedes-Fahrzeuge prägen und die Branche in neue Richtungen lenken wird. Der große Vorteil von MB.OS seien die umfassenden Zugriffsmöglichkeiten auf verschiedene Fahrzeugdomänen. Dies ermögliche es dem Autobauer, schnell neue Angebote zu entwickeln, um den sich ständig verändernden Kundenwünschen gerecht zu werden.
Insbesondere mit Blick auf den wachsenden Anteil autonom gefahrener Strecken sieht Schäfer eine steigende Nachfrage nach Unterhaltung und Produktivität im Fahrzeug: “Ich will Videokonferenzen führen, ich will Texte erstellen, ich will Dokumente und Bilder verschicken oder Geburtstagsgrüße formulieren und auf dem Bildschirm anzeigen lassen”. All das könne man In-House in kürzester Zeit selbst programmieren, was der große Vorteil vom eigenen Betriebssystem sei.
Doch das bedeutet nicht, dass Mercedes alles selbst macht. Vielmehr baue das Unternehmen eine eigene Architektur, die die Kontrolle über Chips und Hardware im Fahrzeug ermöglicht. Durch die Harmonisierung der bisher vielfältigen Chips und Basissoftwares im Fahrzeug sollen sich stabilere Lieferketten, Einkaufsvorteile und eine vereinfachte Softwareintegration ergeben. Trotzdem können über Partnerschaften Apps und Angebote von Drittanbietern wie Google oder Nvidia integriert werden. Besonderes Augenmerk liege dabei auf der Datensicherheit, heißt es weiter. “Denn gerade als Mercedes-Benz ist es uns besonders wichtig, dass wir am Ende die absolute Kontrolle über die Datensicherheit haben und das dem Kunden auch vermitteln können.”
Ein weiterer Schwerpunkt für das Auto der Zukunft ist die künstlichen Intelligenz (KI). Schäfer betont, dass KI im gesamten Entwicklungsprozess des Autos eine große Rolle spielen wird. Sie ermögliche neue Erlebnisse, beschleunige und vereinfache zudem verschiedene Prozesse. Insbesondere hebt er die verbesserte Vorhersagefähigkeit (Prädiktion) hervor, bei der die KI Routinen des Fahrers erkennen könne und entsprechende Handlungsvorschläge mache – zum Beispiel das eigenständige Temperieren des Innenraumes. Dabei sollen Mehrwerte geschaffen werden, ohne für den Fahrer störend zu wirken. KI dürfe dem Fahrer “nicht auf die Nerven gehen”, so Schäfer. Dies sei ein schmaler Grat, denn Nutzer dürften nicht bevormundet werden.
Mercedes setzt auf Festkörperbatterien
Auch, wenn sich Mercedes – wie eingangs erwähnt – verstärkt auf das Luxussegment konzentrieren möchte, spielt die künftige Preisgestaltung von Elektroautos eine entscheidende Rolle. Angesichts des aktuellen Mercedes EQA, der mit knapp 50.000 Euro der günstigste Stromer der Marke ist, stellt Schäfer klar, dass Mercedes bestrebt ist, Elektroautos weiter zu verbessern – insbesondere in Bezug auf Reichweite, Ladeleistung und Verbrauchsminderung. Ob von Mercedes ein günstigerer Stromer zu erwarten ist, darauf geht der Chefentwickler nicht ein. Vielmehr liege der Fokus auf der Senkung des kWh-Verbrauchs von Elektroautos, wodurch Batterien kleiner und leichter gemacht werden könnten. Das wiederum führe zu kosteneffizienteren Lösungen. Derzeit ist der Elektroantrieb in der Produktion und Anschaffung noch teurer als ein vergleichbarer Verbrenner.
Im Hinblick auf die Batterietechnologie erläutert Schäfer, dass Mercedes verschiedene Ansätze verfolge. Während Forschungen zur Serienreife der Feststoffbatterie laufen, werde das Unternehmen auch weiterhin mit etablierten Technologien wie Lithium-Ionen-Akkus, vor allem solchen mit erhöhtem Siliziumanteil und Eisenphosphat (LFP), arbeiten. “Es gibt zwar weitere neue Akkutechnologien wie etwa Natrium-Akkus, diese haben aber noch so wenig Energieinhalt, dass sie für mittlere und größere Fahrzeuge derzeit nicht nutzbar sind”, so Schäfer gegenüber Computer Bild. Mercedes sei offen für Partnerschaften mit Start-ups, die Festkörperbatterien entwickeln. Diese könnten einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der aktuellen Herausforderungen in der Batterietechnologie leisten. Schäfer zeigt sich zuversichtlich, dass die Zukunft weitere Potenziale in diesem Bereich hervorbringen wird.
Quellen: Computer Bild – Mercedes: Markus Schäfer über MB.OS und günstigere Modelle / Automobilwoche – So stellt sich Mercedes für die Zukunft auf / Mercedes-Benz – Pressemitteilungen vom 9.01.2024 und 19.05.2022