Die deutsche Autoindustrie steht vor tiefgreifenden strukturellen Veränderungen, und auch Mercedes-Benz gehört zu den Unternehmen, die ihre ursprünglichen strategischen Annahmen neu bewerten müssen. In den vergangenen Jahren hatte der Konzern unter Vorstandschef Ola Källenius zwei zentrale Leitlinien gesetzt: den schnellen Übergang zum Elektroantrieb und den stärkeren Fokus auf hochmargige Luxusmodelle. Beide Grundannahmen erwiesen sich jedoch als schwer durchzuhalten. Marktbedingungen, Nachfrageentwicklung und geopolitische Rahmenfaktoren führten vor Kurzem zu einer umfassenden Neujustierung.
Bei der Elektrifizierungsstrategie fällt besonders ins Gewicht, dass die Verkaufszahlen reiner Elektroautos hinter den internen Erwartungen blieben. Dies betrifft unter anderem den EQS, der als technologisch ambitioniertes Spitzenmodell die Kundschaft nicht in der erwarteten Breite erreichte. Kritisiert wurden unter anderem Preisniveau, Innenraumgestaltung und ein Design, das für einige Märkte als zu progressiv wahrgenommen wurde. Gleichzeitig entwickelten sich wichtige Absatzregionen schwächer als geplant. In China gingen die Verkäufe im dritten Quartal spürbar zurück, was unmittelbare Auswirkungen auf die globale Profitabilität hatte.
Mercedes reagierte darauf, indem das Unternehmen den ursprünglichen Anspruch einer weitgehend elektrischen Modellpalette bis zum Ende des Jahrzehnts relativierte. Källenius betont, die damalige Ankündigung habe schon immer vorgesehen, dass der Markt diese Umstellung zulassen müsse. Der zweite Teil des Satzes sei vorhanden gewesen, aber nicht deutlich genug hervorgehoben worden. Nun stehe fest, dass der Verbrennungsmotor im Portfolio eine bedeutendere Rolle behalten werde, als zunächst vorgesehen. Die Investitionen in neue Motorengenerationen sollen fortgeführt werden.
Wie der Luxusfokus an seine Grenzen stößt
Parallel dazu wurde die Ausrichtung auf Luxusmodelle überprüft. Die Hoffnung, im gehobenen Segment deutliche Preisprämien durchsetzen zu können, erfüllte sich nur teilweise. Während die Marke grundsätzlich höhere Preise als viele Wettbewerber verlangen kann, zeigte die Marktentwicklung, dass die Strategie eine zu weitreichende Annahme über die Zahlungsbereitschaft darstellte. Konzernkreise berichten, dass die Luxusorientierung intern nicht unumstritten war, Källenius sich jedoch durchsetzte. Inzwischen wird erwartet, dass Modelle wie die A-Klasse entgegen früheren Planungen doch wieder fortgeführt werden, um das Portfolio breiter aufzustellen und Marktanteile im Einstiegsbereich zu sichern.
Interne und externe Beobachter verweisen darauf, dass die Anpassungen zwar notwendig waren, jedoch auch den Druck auf das Unternehmen erhöhen. Die wirtschaftliche Lage ist angespannt: Der operative Gewinn pro Euro Umsatz sank deutlich, und die Produktionszahlen einzelner Baureihen mussten zurückgefahren werden. Im Werk Sindelfingen wird die S-Klasse mittlerweile nur noch in einer Schicht produziert, was die Unsicherheit innerhalb der Belegschaft verstärkt. Gleichzeitig verhandelte der Betriebsrat mit dem Vorstand ein umfangreiches Sparprogramm, das den Abbau mehrerer tausend Stellen vorsieht – ohne betriebsbedingte Kündigungen, aber mit umfangreichen freiwilligen Abfindungsangeboten.
Unterstützung erhält der Vorstandsvorsitzende vom Aufsichtsrat. Dessen Vorsitzender Martin Brudermüller stellt klar, dass das Gremium die aktuelle Kurskorrektur mitträgt. Regelmäßige Gespräche zwischen Kontrolle und Management sollen gewährleisten, dass Entscheidungen nachvollziehbar und strategisch begründet bleiben.
Warum die Modelloffensive zum Prüfstein wird
Für Mercedes beginnt nun eine Phase intensiver Modelloffensiven. Rund 40 neue Autos sollen in den kommenden 20 Monaten auf den Markt kommen, verteilt auf alle Segmente und Antriebsformen. Analysten sehen darin eine entscheidende Bewährungsprobe. Stefan Bratzel vom Center of Automotive Management spricht von einer „Stunde der Wahrheit“, da die kommenden Jahre zeigen werden, ob die Korrekturen greifen. Insbesondere 2026 dürfte aufgrund von Zöllen und Modellwechseln herausfordernd bleiben. Ab 2027 erwartet Mercedes positive Effekte aus der breiten Erneuerung.
Der Konzern setzt darauf, durch eine Kombination aus technischer Weiterentwicklung, neuen Architekturen und einer differenzierteren Marktstrategie eine stabilere Ausgangsbasis zu schaffen. Für Källenius bedeutet dies eine zweite Phase seiner Amtszeit, in der frühere Annahmen angepasst und neue Prioritäten gesetzt wurden. Der Erfolg dieser Neuausrichtung wird wesentlich darüber entscheiden, wie sich Mercedes in einem globalen Markt behaupten kann, der stärker denn je von Unsicherheit geprägt ist.
Quelle: FAZ – Die zweite Chance des Mercedes-Chefs







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