Michael Jost, der frühere Chefstratege des Volkswagen-Konzerns, nutzte seinen Auftritt beim E4Testival am Hockenheimring für einen eindringlichen Appell an die Automobilindustrie, die Politik und die Gesellschaft: Die Elektromobilität sei „alternativlos“. Unter dem Leitmotiv „Electrify the World – think bigger“ forderte Jost dazu auf, den Blick zu weiten: über den reinen Technologiewechsel hinaus hin zu einer umfassenden Transformation von Energie, Mobilität und Wirtschaft.
In seinem Impulsvortrag sprach Jost mit der Energie eines Überzeugungstäters. Er machte deutlich, dass Elektromobilität längst kein Zukunftsthema mehr sei, sondern Gegenwart. „Das Morgen beginnt heute“, sagte er und erinnerte daran, dass die Weichen für das Ende des Verbrennungsmotors bereits gestellt seien. Wer heute noch an alternativen Pfaden festhalte, habe weder die physikalischen noch die ökonomischen Realitäten verstanden. „Wer ein Semester Physik und ein Semester Betriebswirtschaft studiert hat, weiß, dass es für das Auto keine Alternative zum Elektroantrieb gibt.“
Automobilindustrie hat sich bereits Richtung Zukunft aufgemacht
Jost zeichnete in Hockenheim eine klare zeitliche Linie, die verdeutlicht, wie weit die Automobilindustrie bereits in Richtung Zukunft unterwegs ist – und wie knapp der verbleibende Handlungsspielraum tatsächlich ist. Er erinnerte daran, dass Volkswagen schon 2018 im Konzernvorstand beschlossen habe, sich nicht länger an den europäischen CO₂-Flottenzielen zu orientieren, sondern das Pariser Klimaziel von 2050 zur Grundlage der Unternehmensstrategie zu machen. Das bedeute: Wenn Europa bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral sein wolle, dürfe spätestens 2040 kein Verbrenner mehr neu zugelassen werden.
„Und wenn 2040 das letzte Auto mit Verbrennungsmotor verkauft wird, dann wurde es sieben Jahre zuvor auf den Markt gebracht – also 2033. Und wiederum sieben Jahre davor, 2026, wurde es entwickelt“, so Jost. Damit sei die Entwicklung des letzten Verbrenners „heute“, und nicht irgendwann in der Zukunft. Für Ingenieure, Entwickler und Strategen bedeute das, dass der Übergang zur Elektromobilität längst Realität ist, auch wenn viele Diskussionen noch so klingen, als stehe die Wende erst noch bevor.
Mit dieser nüchternen Logik führte Jost vor Augen, welche Konsequenzen dieser Übergang wirtschaftlich hat. Die parallele Phase, in der Verbrenner „ausgephast“ und Elektroautos „eingephast“ werden, werde unweigerlich zu einer massiven Belastung für die Bilanz führen. Er sprach offen von einem „Massaker im EBIT“ – also beim Ergebnis vor Zinsen und Steuern, dem zentralen Maßstab für die operative Profitabilität eines Unternehmens.
Der ehemalige Chefstratege von VW wollte damit deutlich machen, dass die Transformation zur Elektromobilität kurzfristig hohe Gewinneinbußen verursachen wird. Die Margen der Verbrenner schrumpfen, während Elektroautos erst allmählich Skaleneffekte erreichen. Diese Phase ohne wirtschaftliches Gleichgewicht werde unausweichlich, aber notwendig sein, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Eine Entscheidung, die man beim VW Konzern bewusst getroffen habe.
Politik: Keine Technologieoffenheit, sondern klare Linie
Jost machte unmissverständlich klar, dass der häufig bemühte Begriff der Technologieoffenheit in der Automobilindustrie fehl am Platz sei. Für ihn ist es eine Illusion zu glauben, man könne parallel in mehrere Antriebstechnologien investieren und dabei effizient wirtschaften. Die Branche müsse ihre begrenzten Ressourcen konzentrieren, statt sie in konkurrierende Pfade zu verstreuen. „Wir können uns das eine und das andere nicht leisten“, sagte Jost mit Blick auf Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe. Jeder Euro, der in diese Alternativen fließe, fehle beim Ausbau der Elektromobilität und der dazugehörigen Infrastruktur.
Besonders beim Thema Wasserstoff fand er deutliche Worte: „Wasserstoff im Auto ist wie eine Moorleiche – kommt alle fünf Jahre hoch und verschwindet wieder.“ Der Energieträger habe seine Berechtigung, aber nicht im Pkw-Bereich. „Wir brauchen jede Tonne Wasserstoff für Stahl, Chemie und andere Industrien – nicht, um damit Autos anzutreiben.“
Diese klare Haltung steht in deutlichem Gegensatz zur jüngsten Forderung von CDU-Chef Friedrich Merz, der im Zuge der europäischen CO₂-Strategie erneut für eine technologieoffene Herangehensweise geworben hat. Während Merz betont, man dürfe den Verbrennungsmotor über E-Fuels und Wasserstoff nicht vorschnell aufgeben, argumentiert der Ex-Chefstratege aus industrieller Sicht, dass genau diese Offenheit zur strategischen Lähmung führe. Für ihn ist Technologieoffenheit kein Ausdruck von Fortschritt, sondern von Entscheidungsvermeidung.
Entwicklungsbudgets, Produktionskapazitäten und Fachkräfte seien endlich – wer sie auf zu viele Richtungen verteile, verzögere den Umbau und schwäche die internationale Wettbewerbsfähigkeit. In Josts Worten klingt das wie eine Mahnung an die Politik: Statt Energie in ideologische Grundsatzfragen zu stecken, müsse Deutschland endlich „eine klare Linie ziehen“ und den elektrischen Antrieb entschlossen zur Leittechnologie machen.
Energie ist der Kern jeder Entwicklung
Dabei ist Energie für Jost weit mehr als ein technischer oder ökologischer Faktor – sie ist der Kern jeder industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung. „Energy is King“, betonte er mit Nachdruck. In seiner Argumentation wird Energie zur eigentlichen Währung des 21. Jahrhunderts, vergleichbar mit dem Öl der industriellen Revolution. „Die Summe aller Kriege ist die Summe aller Konflikte um Ressourcen und Energie“, so Jost und machte klar, dass Europas Unabhängigkeit und Wohlstand künftig nur gesichert werden können, wenn Energieerzeugung und -nutzung als Teil der eigenen Wertschöpfung verstanden werden.
Erneuerbare Energien seien keine Belastung, sondern Vermögenswerte, die sich langfristig auszahlen. „Ein Windpark oder Solarfeld ist kein Aufwand, sondern ein Asset“, erklärte er. Wer das begreife, erkenne, dass Investitionen in Photovoltaik und Windkraft nicht verschwinden, sondern dauerhafte wirtschaftliche Substanz schaffen. Für ihn ist diese Denkweise der Schlüssel, um Europas Rolle in der globalen Energiewirtschaft zu sichern.
In seinem Vortrag verband er diese Überlegung mit einem Blick in die Zukunft der gesamten Branche. Vier Kräfte, so erklärte er, würden die Automobilindustrie grundlegend verändern: Elektromobilität, autonomes Fahren, softwaredefinierte Produkte und neue Geschäftsmodelle. Diese „vier Forces“ seien die entscheidenden Triebfedern der kommenden Dekade. „Wer glaubt, er könne überleben, indem er einfach weiter Blech biegt, irrt“. „Ein Elektroauto allein reicht nicht.“ Nur wer Hardware, Software, Energie und Daten zu einem ganzheitlichen System verknüpfe, werde künftig noch relevant sein.
Diese Transformation verändere auch das ökonomische Denken. Für Jost endet das Zeitalter der klassischen Gewinnlogik, die auf Stückzahlen und Margen pro Auto basiert. Stattdessen müsse die Branche lernen, in Lebenszyklen, Restwerten und Nutzungsmodellen zu denken. „Wir müssen weg vom teuren Autokauf hin zu Preis pro Kilometer“, forderte er. Abo-Modelle, Leasing und flexible Nutzungskonzepte würden den Fahrzeugbesitz ablösen. Auch Produktentwicklung müsse sich an zukünftigen Marktwerten orientieren, nicht an kurzfristigen Einsparungen. „Wenn ein Schiebedach fehlt, verliert das Auto am Gebrauchtmarkt an Wert – dann ist Sparen Wertvernichtung.“
Think bigger – jetzt
Das Fazit des Ex-VW-Chefstrategen am Hockenheimring war ebenso leidenschaftlich wie unmissverständlich: Die Zeit des Abwartens ist vorbei. „Wir haben keine Zeit mehr. Der Planet erhitzt sich jedes Jahr weiter. Wir müssen größer denken – in Energie, in Daten, in Zukunft.“ Sein Vortrag mündete in einen dringenden Appell an alle Akteure der Mobilitätswende, den Wandel nicht länger in Etappen, sondern ganzheitlich zu begreifen. Die Elektromobilität sei kein Ziel, sondern der Ausgangspunkt eines viel umfassenderen Paradigmenwechsels. „Raus aus der Vergangenheit. Energie in Bewegung stecken, nicht in tote Pferde“, forderte er – eine klare Absage an nostalgisches Denken und politisches Zögern.
Für ihn bedeutet Transformation mehr als technische Innovation: Sie ist eine geistige Haltung. Wer über die Zukunft von Mobilität spricht, müsse über Energie, Daten und Sinn sprechen – über die Frage, wie Technologie gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichen kann. Sein Vortrag wirkte dabei weniger wie ein Rückblick eines ehemaligen Topmanagers, sondern wie der Aufruf eines Vordenkers, der die nächste industrielle Revolution bereits vor sich sieht. Elektromobilität, so Josts zentrale Botschaft, ist erst der Anfang. Die eigentliche Revolution beginnt jetzt – mit dem Mut, das Bekannte hinter sich zu lassen und Mobilität als Teil eines vernetzten, nachhaltigen Energiesystems zu denken.