Der chinesische Markt für neue Technologien, wie beispielsweise Elektroautos, ist in seiner Geschwindigkeit ein Phänomen. Kaum ein Land hat in so kurzer Zeit einen gesamten Markt so grundlegend umgestaltet, jedoch zeichnet sich allmählich ab, dass sich der Fortschritt verlangsamt. Warum ist das so?
Dass Fortschritt trotz großer Anstrengungen nicht gelingt, wird in China unter dem Begriff Neijuan verstanden, der so viel bedeutet wie Involution. Der ehemalige VW-Chef Herbert Diess beschreibt in einem Gastbeitrag in der Wirtschaftswoche Neijuan wie das Abstrampeln in „irrem Tempo“, das sich zugleich nicht nach vorankommen anfühle. „Der Ausdruck umschreibt in der Ökonomie des Landes eine Situation innerer Verengung, Zurückbildung und eine andauernde Effizienzsteigerung, die keine Ergebnisverbesserungen bringt“, so Diess.
Die Anzeichen dieser Entwicklung sind offen sichtbar und das nicht erst seit gestern. Von einem aggressiv geführten Preiskampf ist in der Berichterstattung immer wieder die Rede, wobei um Billigpreise konkurriert wird. So hat beispielsweise erst kürzlich der chinesische Marktführer für Elektroautos, BYD, seine Preise durch Kaufanreize stark gesenkt. Der Einstiegspreis seines billigsten Modells Seagull fiel auf umgerechnet knapp über 6800 Euro. Grundsätzlich ist der Hersteller für seine günstigen Elektroautos bekannt. Infolge der Verkündung fielen jedoch auch die Aktien verschiedener Autohersteller und BYD wurde unter anderem vom CEO von Great Wall Motors (GWM) harsch kritisiert. Obwohl diese Preisentwicklung für Verbraucher:innen zunächst gut ist, wirken sich die sinkenden Neupreise auch negativ auf die Preisentwicklung auf dem Gebrauchtwagenmarkt aus. „Der Kunde trägt den Wertverlust“, sagt Diess.
Inzwischen können trotz wachsender Verkaufszahlen keine ausreichenden Einnahmen mehr erwirtschaftet werden. Das belastet dann das gesamte Wirtschaftssystem inklusive Lieferketten. So haben sich in der Elektroauto-Branche in China die Zahlungsverzögerungen bei den Zulieferern so weit gesteigert, dass Rechnungen mitunter monatelang nicht gezahlt wurden. Diese gängige Praxis hat nun auch die Regierung kritisiert. Bei einem Treffen mit den Aufsichtsbehörden Anfang Juni haben die größten Unternehmen der Branche, darunter BYD und Geely, versprochen, ihre Lieferanten innerhalb von 60 Tagen zu bezahlen.
Die Involution betrifft nicht nur die chinesische Automobilindustrie, vor allem im Bereich der Elektromobilität, sondern auch andere Wirtschaftszweige, wie etwa die Produktion von Solarpaneelen. In der Solarbranche können Hersteller nach Angaben der Wirtschaftswoche trotz weltweiter Dominanz und einem jährlichen Wachstum von 30 Prozent ihre Kapitalkosten nicht mehr erwirtschaften. Für Innovationen und Fortschritt fehlen dann die Mittel. Neijuan also: verlangsamter Fortschritt trotz Wachstum.
Wirtschaftliche Abwärtsspirale
Während die Verkaufspreise von Herstellern also immer weiter sinken, um wettbewerbsfähig zu bleiben, steigt zugleich der Kapitalbedarf. „BYD hat erst rund sechs Milliarden Dollar neues Kapital geschöpft und plant wohl bereits eine weitere Eigenkapitalemission in ähnlicher Höhe. Die Preissenkungen, die der Marktführer in diesem Rennen vorgibt, beschleunigen die Abwärtsspirale“, so Diess. Das ließe sich nur so erklären, dass die Konkurrenz in die Knie gezwungen werden soll, denn die eigene Unternehmensbewertung gehe mit dem Margenrückstand auch zurück. „Viele Autohersteller müssen die (sehr attraktiven!) Autos, die beim Kunden landen, mit jeweils 5000 bis über 10.000 Euro frischem Eigenkapital stützen – in der Hoffnung auf weiteres Wachstum, Skaleneffekte und Effizienzsteigerungen, um bei noch niedrigeren Preisen im Markt zu bleiben“, so Diess.
Auf der Plattform InsideEVs ist sogar von einer „branchenweiten Eliminierungsphase“ die Rede, nach der es viele Unternehmen nicht mehr geben werde. Viele Unternehmen werden die Liquiditätskrisen nicht erfolgreich überstehen können. Diese Wettbewerbsentwicklung, bei der Unternehmen insolvent gehen, ist nicht per se ungewöhnlich, ihre Geschwindigkeit allerdings schon.
Effizient – ja, effektiv – nein?
Die Involution, bei der sich das Ergebnis also trotz stark zunehmender Bemühungen nicht verbessert, hat zwar zu einer enormen Effizienzsteigerung geführt: „Nur effektiv ist das deswegen bisher nicht. Man tut die Dinge richtig, aber tut man die richtigen Dinge (= Effektivität)? Da sieht man bei chinesischen Unternehmen manchmal noch wenig Konzept, Vorausschau und Strategie, aber viel Versuch und Irrtum. Es werden erst Schiffe gebaut, um die Autos nach Europa zu schaffen. Ein vertrauenswürdiges Handelsnetz oder gar einen konsistenten Markenauftritt hat man noch nicht“, so Diess. Die chinesische Geschwindigkeit sei eine großartige Fähigkeit. „Aber ‚China Speed‘ reicht nicht alleine, um nach vorn zu kommen. Man muss auch in die richtige Richtung laufen.“
Der Zustand der chinesischen Wirtschaft in diesen Bereichen wirkt künstlich aufgeblasen und verschoben, irgendwie nicht mehr wirtschaftlich. Gleichzeitig war ihr Einfluss auf den technologischen Fortschritt der letzten Jahre so groß, dass die meisten Hersteller wohl weiterhin global kaum noch wegzudenken sind. Die derzeitige Entwicklungsphase wird die Branche sicher grundlegend verändern und im besten Fall auch wieder gesunden lassen, um dann, vielleicht, zurück zu Fortschritt und Innovation zu kommen.
Quelle: Wirtschaftswoche – Von 内卷 sollten Sie schon mal gehört haben / Inside EVs – The EV Tax Credit Could Be Dead In Just 180 Days