In einem exklusiven Interview mit Massimo Cialone, dem Chief Engineer Material & Compounding beim Hankook Tire Europe Technical Center, tauchen wir tief in die Welt der nachhaltigen Reifentechnologie ein. Seit 2015 leitet Cialone das Team im europäischen Forschungs- und Entwicklungszentrum von Hankook in Hannover, wo er sich vor allem auf die Entwicklung von innovativen Reifenmischungen und Materialien konzentriert. Seine Expertise ist besonders gefragt, wenn es um die Anforderungen von Automobilherstellern geht – insbesondere in Bezug auf Nachhaltigkeit bei Erstausrüstungsreifen.
In unserem Gespräch beleuchtet Cialone die aktuellen Trends und Herausforderungen bei der Entwicklung von Reifen für Elektroautos. Er gibt Einblicke, wie sein Team bei Hankook daran arbeitet, die Umweltauswirkungen zu minimieren und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit und Langlebigkeit der Reifen zu maximieren. Mit seinem tiefgreifenden Wissen über Materialien und Compounding-Techniken, die am Puls der Zeit sind, spielt Cialone eine Schlüsselrolle in der Branche, um die Transformation hin zu nachhaltigerer Mobilität zu unterstützen.
Wie ist es Ihnen gelungen, den Rollwiderstand Ihrer Elektroauto-Reifen zu verbessern, und wie wirkt sich dies auf die Gesamteffizienz des Fahrzeugs aus?
Ein niedriger Rollwiderstand ist bei speziell für Elektroautos entwickelten Reifen von entscheidender Bedeutung, denn im Vergleich zu einem herkömmlichen Reifen kann ein EV-Reifen die Reichweite pro Batterieladung um bis zu 6 Prozent bzw. 30 km erhöhen*. Dies ist nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus ökologischer Sicht ein großer Vorteil. Ein Test des TÜV SÜD** hat gezeigt, dass der Hankook iON evo konventionellen Reifen insbesondere in Bezug auf den Rollwiderstand überlegen ist.
Für unsere EV-Reifenserie haben wir eine spezielle Laufflächenmischung entwickelt. Dabei sorgen hoch dispergierbare Polymere, ein hoher Silica-Anteil und ein modernes Mischverfahren für eine höhere Elastizität der Lauffläche und reduzieren gleichzeitig unnötige Bewegungen im Profil. Dies verringert den Energieverlust und Reifenverschleiß und damit den Rollwiderstand.
Ein weiterer Aspekt für die Verringerung des Rollwiderstands ist die Gewichtseinsparung pro Reifen. Erreicht wird diese durch die Verwendung von natürlichen Ölen, die für einen geringeren Abrieb sorgen. Es wird also weniger Material auf der Lauffläche benötigt, um die gleiche Laufleistung zu erzielen. Zudem sind natürliche Öle umweltfreundlicher. Ferner sorgt die aerodynamische Optimierung des Reifenprofils für eine größere Reichweite pro Batterieladung.
Gibt es besondere Herausforderungen im Hinblick auf Haltbarkeit und Langlebigkeit von Reifen für E-Autos im Vergleich zu solchen für konventionelle Fahrzeuge?
Das unmittelbar einsetzende hohe Drehmoment von Elektroautos ist die größte technische Herausforderung für einen Reifen. Die Reifen sind die einzige Verbindung des Autos zur Fahrbahn und müssen die hohen Antriebsmomente auf die Straße übertragen. Ein Stromer kann aus dem Stand mit weniger Schlupf beschleunigen, wenn ein Reifen für den notwendigen Grip sorgt. Unsere Laufflächenmischung enthält einen hohen Anteil an Naturharzen, die hervorragende Haltbarkeit und geringen Verschleiß gewährleisten.
E-Autos sind oft schwerer als herkömmliche Autos. Wie begegnen Sie dieser Herausforderung, insbesondere bei der Materialauswahl?
Richtig, die Reifen auf einem E-Auto müssen mit einer höheren Fahrzeugmasse durch die schweren Batterien zurechtkommen. Dem begegnet Hankook beim iON durch einen verstärkten Gürtel mit besonders widerstandsfähigen Aramidfasern und einer über die gesamte Breite der Lauffläche gleichmäßig verteilten Last. Dies ermöglicht eine höhere Traglast pro Reifen, wirkt Verformungskräften bei höheren Geschwindigkeiten entgegen und sorgt für Lenkpräzision und eine gute Kurvenstabilität. Ebenso verringert die besonders gleichmäßige Lastverteilung den Verschleiß der Lauffläche.
Inwieweit arbeiten Sie mit Automobilherstellern zusammen, um die Reifenentwicklung auf die speziellen Anforderungen von E-Autos abzustimmen?
Als Reifenhersteller ist Hankook an der Entwicklung eines Autos beteiligt, lange bevor es auf den Markt kommt. Diese enge und partnerschaftliche Zusammenarbeit liefert wichtige Einblicke in die Zukunft der Mobilitätsbranche. Darüber hinaus müssen wir gemeinsam mit den Fahrzeugherstellern EU-Vorschriften und neue Entwicklungstrends frühzeitig erkennen.
Die Anforderungen der Automobilhersteller sind oft sehr hoch und umfassen auch Vorgaben zur Nachhaltigkeit, die wir erfüllen müssen. Jeder Erstausrüstungsreifen für ein bestimmtes Automodell wird individuell angefertigt und durchläuft einen langen Freigabeprozess. Dieser Innovationsdruck und das Wissen, wie die Autos von morgen aussehen werden, hat positive Auswirkungen auf die gesamte Produktpalette.
Welche Innovationen im Bereich der Reifenmischungen für Elektroautos hat Hankook entwickelt, um den Anforderungen der Umstellung auf Elektromobilität gerecht zu werden?
Die iON-Produkte profitierten von der neu eingeführten „iON Innovative Technology“. Dabei handelt es sich um ein von Hankook entwickeltes komplexes Technologiesystem, um die Effizienz in Forschung und Entwicklung und damit insbesondere die EV-Reifen des Unternehmens weiter zu verbessern. Es umfasst vier Schlüsseltechnologien: i Sound Absorber (Geräusch), i Super Mileage (Verschleiß), i Perfect Grip (Haftung) und i Extreme Lightness (Rollwiderstand). Kern des Systems sind 58 patentierte Technologien die in die Entwicklung der iON-Reifenfamilie eingeflossen sind. Dazu gehören auch Patente, die die Reifenmischungen betreffen: Etwa „ProCoupling“, das eine feinere Silica-Verteilung durch eine optimierte Mischung erreicht; ProGrip“ für eine optimierte Haftung auf nasser Fahrbahn durch die Kombination von hochdichtem Silica und weiteren, nachhaltigen Rohstoffen; sowie „ProDurable“ für eine verbesserte Laufleistung dank einer neuartigen Materialmischung.
Können Sie uns mehr über die Verwendung von Ölen auf Pflanzenbasis in Ihren Reifen erzählen? Wie kann das den Reifenverschleiß verringern?
Der große Anteil an natürlichen Ölen in der Mischung macht die iON-Produkte nicht nur insgesamt nachhaltiger, sondern wirkt sich auch positiv auf Haltbarkeit und Abrieb des Laufstreifens aus. Das liegt daran, dass wir durch die Optimierung der Glasübergangstemperatur Tg einen besseren Rollwiderstand und gleichzeitig eine höhere Verschleißfestigkeit erreichen. Wir verwenden grundsätzlich nur natürliche Öle, die keinerlei Lebensmittelkonflikte auslösen und haben dazu eine globale Lieferkette aufgebaut, die Verfügbarkeit und Nachhaltigkeit in Einklang bringt.
Welche Fortschritte machen Sie bei der Entwicklung und Verwendung von klimafreundlichen Rohstoffen in Ihren Reifen?
Wir verwenden für unsere iON-Produkte sowohl erneuerbare als auch recycelte Rohstoffe. Wie bereits erwähnt, verwenden wir für Laufflächenmischungen Öle auf Pflanzenbasis. Silica kann aus der Asche von Reisabfällen gewonnen werden, und für biobasiertes Harz verwenden wir Schalen von Cashews. Weitere Beispiele sind recycelter PET-Textilcord sowie zirkuläre oder biozirkuläre Polymere. Und es gibt noch weitere vielversprechende und hochinteressante Entwicklungen im Recycling: Ruß ist ein enorm wichtiger Rohstoff für die Reifenherstellung, ein einzelner Autoreifen kann bis zu drei Kilogramm davon enthalten. Und wir sind in der Lage, durch umweltfreundliche Pyrolyse Ruß aus Altreifen zu gewinnen.
Was haben Sie bereits unternommen, um die Reifenproduktion nachhaltiger zu machen?
Hankook war der erste Reifenhersteller, der 2021 die ISCC PLUS-Zertifizierung (International Sustainability & Carbon Certification) für eines seiner Werke in Südkorea erhielt. Erst kürzlich wurde auch unser europäisches Werk in Ungarn mit der auf Grundlage der EU-Richtlinie für erneuerbare Energien (EU RED) vergebenen ISCC PLUS-Zertifizierung für seine herausragenden Bemühungen zur Förderung umweltfreundlicher Praktiken ausgezeichnet.
Einer der Schwerpunkte ist die Förderung der erfolgreichen Umstellung von Erdöl auf natürliche Öle, von Synthesekautschuk auf Basis petrochemischer Rohstoffe auf biobasierte, zirkuläre oder biozirkuläre Polymere, von PET-Textilcord auf Basis petrochemischer Rohstoffe auf recycelten PET-Textilcord sowie von mineralischen biobasierte Silica-Füllstoffe, jeweils auf Grundlage eines transparenten und rückverfolgbaren Zertifizierungssystems.
Ebenso gibt es natürlich noch viele weitere Möglichkeiten, die Reifenproduktion nachhaltiger zu gestalten, und wir engagieren uns weiterhin dafür, den Rohstoffverbrauch in allen Bereichen zu minimieren, um unser Netto-Null-Ziel bis ins Jahr 2050 zu erreichen.
Wie will Hankook sein selbst gestecktes Ziel der CO₂-Neutralität bis 2050 erreichen?
Das Unternehmen hat eine systematische Strategie für dessen Beitrag gegen den Klimawandel entwickelt und in sein Management einen Ausschuss für Klimawandel eingegliedert. Darüber hinaus ergreift Hankook verschiedene Aktivitäten zur Energieeinsparung. Unter anderem haben wir effizientere Anlagen implementiert, den Energieverbrauch optimiert und nutzen verstärkt erneuerbare Energien. Hankook forscht weiter an der Entwicklung umweltschonender Reifen durch Erhöhung des Anteils an nachhaltigen Rohstoffen. Außerdem arbeiten wir zurzeit an einer intelligenten Reifentechnologie mit in die Lauffläche eingebetteten Sensoren.
Im März 2022 schloss sich Hankook der Science-Based Targets Initiative (SBTi) an und legte seine Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen vor. SBTi ist eine weltweite Initiative, die Unternehmen dabei unterstützt, Ziele festzulegen, die mit den neuesten Erkenntnissen der Klimaforschung und den Zielen des Pariser Klimaabkommens im Einklang stehen. In Übereinstimmung mit der SBTi-Validierung wollen wir bis 2030 die Gesamtmenge der direkten und indirekten bei der Produktion entstehenden Treibhausgasemissionen (Scope 1 und 2) um 46,2 Prozent im Vergleich zu 2019 reduzieren. Außerdem wollen wir bis 2030 die absoluten Treibhausgasemissionen, die in unserer Wertschöpfungskette entstehen (Scope 3), im Vergleich zu 2019 um 27,5 Prozent reduzieren. Hankook stellt sich damit der Herausforderung, bis 2050 auf der Grundlage des SBTi-Net-Zero-Standards netto null Emissionen zu erreichen.
Wie gehen Sie mit dem Produktlebenszyklus von Reifen um, insbesondere im Hinblick auf Recycling und Abfallvermeidung?
Wir haben mit „E.Circle“ ein System zur Herstellung umweltfreundlicher Produkte mit hoher Lebensdauer entwickelt, das Technologien für erneuerbare Energien, Recycling und Runderneuerung berücksichtigt. Wir arbeiten dabei mit Technologien, die die Umweltbelastung über den gesamten Produktlebenszyklus von der Herstellung bis zur Entsorgung verringern. Die Wirksamkeit der Maßnahmen wird regelmäßig durch Erfassung und Analyse der im Prozess gewonnenen Daten überprüft.
Zudem werden sowohl auf Unternehmensebene als auch auf EU-Verbandsebene (ETRMA) produktbezogene Lebenszyklusanalysen durchgeführt, um die mit dem gesamten Produkt- und Prozesslebenszyklus verbundenen Umweltauswirkungen zu quantifizieren und zu analysieren.
Können Sie uns einen Ausblick auf zukünftige Innovationen geben, insbesondere im Hinblick auf die Elektromobilität?
Unser Ziel ist es, die Eigenschaften unserer Produkte noch weiter an die Anforderungen von E-Autos anzupassen und natürlich auch den Anteil an nachwachsenden Rohstoffen kontinuierlich zu erhöhen. Ein weiterer Trend ist das autonome Fahren. Auch die Reifen werden relevante Informationen sammeln, austauschen und mit Auto und Fahrer teilen – Stichwort „intelligenter Reifen“–, um das autonome Fahren sicherer zu machen.
* Vergleich von iON evo und Ventus S1 evo3, interner Test mit Dimension 245/45 R19 XL
** TÜV SÜD Tire Test 2022, Report No. 713252186-BM01, -PM01, Testzeitraum März 2022. Test des Hankook Ventus iON S und vier Wettbewerber-Reifen, alle in der Dimension 245/45 ZR19 102Y XL. Testfahrzeuge: Tesla Model S 85, Tesla Model S P100D, Audi Q5 Sportback 40 TDI, VW Tiguan 2.0 TDI Testorte: IDIADA, Papenburg, Neubiberg, Garching. Gilt für alle weiteren Nennungen des TÜV SÜD Tire Test.