Es ist nicht lange her, da fiel einem bei Kia irgendwas mit billig und sieben Jahren Garantie ein. Wenn überhaupt. Doch diese Vergangenheit haben die Koreaner abgestreift. Ob Design, Sportlichkeit oder Technologie – überall fahren sie ganz vorne mit. Wohl nicht ganz zufällig steht Ki im Koreanischen für Aufstieg. Da verpflichtet allein schon der Name…
Auch in Sachen E-Mobilität hat das Unternehmen die Zeichen früh erkannt. Mit e-Soul und e-Niro waren bereits Stromer im Angebot, als anderswo noch fleißig am Verbrenner getüftelt wurde – nun treibt Kia mit dem EV6 die Spannung auf die Spitze. Denn während die E-Autos dieser Welt – auch Hauptkonkurrent ID.4 – noch mit 400-Volt-Technik unterwegs sind, haben sich die Koreaner Faktor 2 gegönnt. Das ist im Markt der Masse schon eine Ansage. Über 800 Volt verfügen sonst nur Porsche Taycan und Audi RS e-tron GT – allerdings in völlig anderen Preis-Regionen.
Die Technik ist aufwändiger, aber längst wollen sie bei Kia mit ihren Autos ins Herz treffen. Und wo, wenn nicht bei Reichweite und Ladezeit gelänge das derzeit am besten? Wer, so die Philosophie, muss sich noch groß um Radien sorgen, wenn er an einer 350-kW-Säule in nicht mal fünf Minuten Strom für 100 Kilometer in die Zellen pressen kann? Selbst notorischen Schwarzmalern gehen da langsam die Argumente aus.
Zumal man sich den EV6 maßschneidern kann. Zur Wahl stehen Akkus mit 58 und 77,4 kWh, Heck- und Allradantrieb – sowie in der Folge ein Spektrum zwischen 170 und 325 PS bei Reichweiten von 394 bis 528 Kilometern (WLTP) – in der Stadt sollen sogar 740 drin sein. Tempo 100 liegt bei Allrad und großem Akku nach 5,2 Sekunden an, bei Heckantrieb mit kleiner Batterie vergehen aber auch bloß 8,5. Rauf geht’s so oder so bis Tempo 185. Während der Testfahrten zeigte der Tacho sogar standhaft 193.
Genau betrachtet bietet Kia sogar ein klein wenig mehr als Konzernmutter Hyundai mit dem eben doch nicht ganz baugleichen Ioniq 5. Das Allrad-Modell des EV6 hat 20 PS mehr Leistung, kommt mit leicht größerem Akku weiter – und fährt sich mit zehn Zentimeter kürzerem Radstand obendrein agiler. Hyundai indes lässt die forsche Tochter nur allzu gerne gewähren. Schon den supersportlichen Stinger durften sie bei Kia für sich alleine haben.
Um die Technik herum haben die Koreaner bogiges Blech modelliert. Mit schwungvoller Haube, dicken Backen und einem Heck mit markanter Abrisskante. Die hoch spannende Hülle samt den bis zu 21 Zoll großen Rädern kaschiert allerdings auch ein wenig, dass da ein knapp 4,70 Meter langes Gefährt mit 2,90 Metern Radstand daherkommt. Kleiner Happen für technische Feinschmecker: Der EV6 verfügt über die weltweit erste in Serie gefertigte Achse, bei der Radlager und Antriebswelle eine Einheit bilden.
Das digitale Cockpit beherrschen zwei 12-Zoll-Bildschirme, die zu einer Art Cinemascope-Display zu verschmelzen scheinen. Ein nicht ganz billiger Trick – aber ein schöner eben auch. Lobenswert: Wichtige Funktionen benötigen kein lästiges Gefummel in Untermenüs. Die identische Tastenreihe lässt sich dabei durch Umschalten fürs Navi ebenso nutzen wie für Heizung und Klima. Vorbildlich: Wer zwischen den Fahrmodi Eco, Normal und Sport wechselt, kann die zugehörige Reichweite gleichgroß mit der Tempo-Anzeige ablesen. Schade nur, dass man mit Ziffern leben muss – eine Zeiger-Grafik lässt sich nicht auswählen.
Völlig neu ist eine scheinbar schwebende Mittelkonsole, auf der sich Startknopf und Drehrad für die Fahrtrichtung finden. Platz ist reichlich, man thront auf gut konturierten Sitzen mit futuristischen Kopfstützen und kann sich auf Wunsch – etwa bei der Ladepause – samt ausklappbarer Beinauflage gepflegt flachlegen. Nachhaltigkeit ist auch hier ein Thema. Echtes Leder ist gar nicht erst im Angebot, für Bezüge und Teppiche gibt’s stattdessen Garne aus PET-Flaschen und alten Fischernetzen.
An Laderaum herrscht kein Mangel. Bei voller Bestuhlung stehen bis zu 490 Liter zur Verfügung, mit umgeklappten Rücksitzen 1,3 Kubikmeter. Das ist etwas weniger als beim Ioniq 5 und der schneidigen Silhouette geschuldet. Zusätzlichen Platz bietet ein Fach unter der vorderen Haube. Dieser „Frunk“ schluckt beim Hecktriebler 52 Liter, bei den Allrad-Modellen reichen deren 20 immerhin noch für das Ladekabel. Irgendwo muss der Frontmotor ja sitzen.
Das Fahrwerk ist deutlich Richtung Sport austariert, bewahrt allerdings ausreichend Komfort bei kurzen Stößen. Immerhin müssen ja auch bei flotter Fahrt zwei Tonnen und mehr im Lot gehalten werden. Gut gelöst: Sechs Stufen erlauben höchst individuelle Rekuperation – inklusive „i-Pedal-Driving“, bei dem der EV6 tatsächlich bis zum Stillstand verzögert.
Nicht mal mehr lenken und bremsen müsste man, weil Kias Jüngster auf Wunsch rundum Obacht gibt, automatisch in der Spur bleibt, das richtige Tempo hält, gebührend Abstand wahrt und – wenn sonst nichts mehr hilft – den Anker wirft. Der Clou der Assistenz ist das optionale Head-up-Display, das im Angesicht der Kurve schwirrende Pfeile virtuell vors Auge wirft. Für ein Auto dieser Klasse ist das im Wortsinn großes Kino.
Eher ungewöhnlich für ein E-Mobil: Achtern dürfen beeindruckende 1,6 Tonnen an den Haken. Das sind noch einmal 200 Kilo mehr als beim VW ID.4 GTX. Einzige Voraussetzung ist die große Batterie. Mit kleinem Akku bleibt’s – auch gebremst – bei 750 Kilo. Selbstverständlich gilt die Präambel des Akku-Grundgesetzes: Dynamik kostet Distanz. Und zusätzliches Gewicht leider ebenso. Damit man in Sachen Radius keine böse Überraschung erlebt, rechnet der EV6 auch bei Anhänger-Betrieb die Restreichweite hoch.
Doch wie immer man unterwegs ist – irgendwann ist der Saft alle. Macht aber nix. In gerade mal 18 Minuten steigt der Pegel von 10 auf 80 Prozent – vorausgesetzt natürlich, die passende Säule steht parat. Allerdings kann der EV6 auch geben – und zwar bis zu 3,6 kW. Dazu verwandelt man den Ladeanschluss per Adapter in eine Steckdose, an die sich Wohnanhänger, E-Bike oder sogar andere E-Autos anschließen lassen. Bis zur Selbstaufgabe allerdings geht die Stromspende nicht. Sie endet, sobald die eigene Akkuladung unter 20 Prozent sinkt.
Das alles gibt’s selbstverständlich nicht zum Schnäppchenpreis. Für die Basis-Version ruft Kia 44.990 Euro auf – nach Abzug der Prämie bleiben also 35.420. Die große Batterie schlägt mit zusätzlichen 4000 Euro zu Buche, der Allradantrieb mit weiteren 3900 Euro. Ach ja – wer’s vergessen haben sollte: Sieben Jahre Garantie gibt’s immer noch. Auch auf den Akku
Übt man sich in Geduld und kann obendrein 21.000 Euro Aufpreis lockermachen, winkt Ende kommenden Jahres die volle Dröhnung. Mit GT-Paket samt einstellbarem Fahrwerk, elektronischem Sperrdifferential und großer Bremse kommt der Kia EV6 dann mit 585 PS, ist in 3,5 Sekunden bei drei Stellen im Tacho und schafft Tempo 260. Das ist fast identisch mit dem Taycan Turbo – nur dass der knapp das Zweieinhalbfache kostet.