Mit Onvo hat das chinesische Auto-Start-up Nio eine zweite Marke ins Leben gerufen, die für mehr Verkäufe sorgen soll. Der Elektro-Crossover Onvo L60 tritt gegen den weltweiten Bestseller Tesla Model Y an und macht dabei einiges besser als der Ami-Stromer. Dies konnten wir bei einer ersten Fahrt mit dem E-Crossover selbst erfahren.
Um eine neue Marke zu etablieren, ist der Wiedererkennungswert wichtig. So gesehen hat Nio mit dem Onvo L60 einen richtig guten Job gemacht. Der E-Crossover kommt einem sofort vertraut vor. Die Front mit V-förmigen Scheinwerfern erinnert an Polestar, das Heck an einen BMW X4. Im Innenraum geht es weiter: Großes zentrales Display (17,2 Zoll), keine Bedienelemente und ein oben und unten abgeflachtes Lenkrad mit zwei Drehknöpfen… na? Richtig, wie bei Tesla. Schließlich soll das erste Auto der günstigeren Tochter des chinesischen Autobauers Nio dem Model Y ja auch Käufer abjagen.
Der Plan geht auf: Innerhalb von 100 Tagen wurden bereits 20.000 L60 verkauft. In China geht der 4,82 Meter lange Stromer auch mit einem Kampfpreis an den Start: rund 20.000 Euro ohne Batterie und etwa 27.000 Euro mit den Akkus. Das wird sich in Deutschland nicht ganz so einfach umsetzen lassen. Wir gehen von rund 35.000 Euro als Preis inklusive Energiespeicher aus. Apropos Batterien. Der Onvo L60 kommt zunächst mit zwei Akkugrößen: 60 und 85 kWh. Später ergänzt die 100-kWh-Batterie das Duo und soll den L60 mehr als 1000 Kilometer weit bringen. Allerdings gemäß dem chinesischen CLTC-Zyklus. Auf den WLTP-Test umgerechnet sind das etwa 850 km. Was immer noch sehr ordentlich wäre.
Erste Fahrt im Onvo L60 – Eindrücke & Einschätzung
Unser Onvo L60 hat die 60-kWh-Akkus (Lithiumeisenphosphat / LFP) verbaut, sie kommen von der BYD-Tochter FinDreams, er hat Allradantrieb und eine Leistung von 340 kW / 462 PS: vorne 100 kW / 136 PS und 240 kW / 326 PS hinten. Zu Beginn unserer Testfahrt zeigte das System einen Ladezustand der Batterie von 86 Prozent und eine Reichweite von 451 Kilometern an. Das kommt den chinesischen Angaben von maximal 555 Kilometern zumindest einigermaßen nahe.
Beim Laden schlägt sich die kleine Batterie ordentlich, wenn auch nicht überragend. Schließlich rollt auch der Nio-Ableger mit der 900-Volt-Technik auf die Straße, die schnelles Stromtanken verspricht. Von 10 bis 80 Prozent vergehen so 25 Minuten. Besonders stolz sind die Chinesen auf den „Kältetest“: Bei deftigen Minusgraden saugt der L60 fast doppelt so schnell Strom wie das Tesla Model Y und füllt die Akkus in 52 Minuten (Model Y: 95 Minuten).
Wenn man kann, fährt man am besten in eine Wechselstation der vierten Generation, dann dauert das Ganze nur drei Minuten. Nachdem man in ein Feld navigiert hat, rangiert der Nio sogar selbsttätig in die Box. Wir haben das Prozedere ausprobiert und es hat einwandfrei funktioniert. Auch wenn es einige Vorbehalte gegen diesen Batteriewechsel gibt, darunter die Kosten, ist dieser in der aktuellen Version bequem und vor allem richtig schnell.
Der L60 ist aber auch auf der Straße flott. In der Spitze sind 203 km/h drin. Aus dem Stand sind nach 4,6 Sekunden 100 km/h erreicht. Wir waren in und um Guangzhou unterwegs. Auf den Straßen der kantonesischen Metropole geht es zur Sache. Da hilft die Power des E-Autos, um der hiesigen Verkehrs-Anarchie entspannt zu entkommen. Auch wenn wir die meiste Zeit im Comfort-Modus unterwegs waren und nicht im Sport-Modus die letzten kW aus dem Antriebsstrang kitzelten. Wer es ganz entspannt mag, schaltet in den Energiespar-Modus, was bis zu 80 km Reichweite bringen soll, ohne die Klimaanlage herunterzufahren oder definiert seine Präferenzen unter Individual selbst.
Was auffällt, ist einmal mehr die komfortable Abstimmung des Fahrwerks, wie es im Reich der Mitte beliebt ist. Hier wünschen sich Europäer etwas mehr Verbindlichkeit. Ähnliches gilt für die Lenkung. Wie schaut es mit dem Verbrauch aus? Wir kamen auf 17,9 kWh/100 km, was ziemlich gut ist. Schließlich hatten wir die Rekuperation auf Minimal gestellt und waren auf der Autobahn auch mal mit 120 km/h unterwegs.
Der Respektabstand zwischen dem Onvo L60 und den Modellen der Kernmarke Nio zeigt sich auch bei den Fahrerassistenzsystemen. Zwar ist der L60 mit 30 Sensoren bestückt, darunter auch ein 4D-Imaging-Radar, das das gleichzeitige Erfassen, Kartieren und Nachverfolgen mehrerer beweglicher Objekte in hoher Auflösung ermöglicht. Aber ein teures Lidar-Radar, das auch bei schlechten Lichtverhältnissen und auf eine größere Entfernung Hindernisse erkennt, ist nicht an Bord. Deswegen funktioniert die Autopilot-Funktion des Levels 2++ „Navigate on Pilot Plus“ (NOP+) vermutlich bei Regen oder schlechtem Wetter nicht so gut, wie das bei einem Nio der Fall ist. Wir waren bei strahlendem Sonnenschein unterwegs, also perfekten Bedingungen.
Das kostet der Onvo L60 – in China
Beim Schöner-Wohnen-Kapitel schneidet der Onvo L60 gut ab. Das Interieur ist nicht ganz so nobel wie beim neuen Luxus-Kreuzer Nio ET9 aber die Materialien sind immer noch ansehnlich und die Verarbeitung solide. Platz ist beim Onvo E-Crossover ohnehin kein Thema. Dank des Radstandes von 2,95 Metern ist in der zweiten Reihe auch hinter großgewachsenen Personen mehr als genug Platz für die Beine. Zur Erinnerung noch einmal der Preis: Wie eingangs erwähnt, geht es in China bei 206.900 Yuan (rund 27.000 Euro) los.
Die von uns gefahrene Version mit Allradantrieb und der Batterie mit einer Kapazität von 60 Kilowattstunden kostet 20.000 Yuan (rund 2600 Euro) mehr. Entscheidet man sich für die 85-Kilowattstunden-Akkus kommen noch einmal 29.000 Yuan (etwa 3900 Euro) drauf. Beim Energiespeicher-Leasingmodell Battery as a Service (BaaS) gibt es auf den Kaufpreis 57.000 Yuan (rund 7500 Euro) Rabatt. Dann ist aber eine Monatsmiete von circa 79 Euro fällig. In Deutschland muss man wohl noch bis zum Jahr 2026 auf den Onvo L60 warten.