Eigentlich ist es eine Offensive aus dem Osten. Das chinesische Start-up Nio will den deutschen Markt erobern. Elektrisch selbstverständlich – und doch mit einer neuen alten Idee. Der ES8 soll die charmante, aber schon mehrfach verblichene Idee des Wechsel-Akkus wiederbeleben. Zumindest für diejenigen, die sich für das Konzept BaaS (Battery as a Service) entscheiden – und in der Folge nur das Fahrzeug kaufen, den Akku aber mieten.
Den Auftakt macht Nio allerdings weit im Norden – im Musterland der E-Mobilität. In Norwegens Hauptstadt Oslo, unweit des königlichen Schlosses, hat das Unternehmen am Wochenende sein erstes „Nio-House“ außerhalb des Reichs der Mitte eröffnet. Verkaufs- und Servicepunkte in Bergen, Stavanger, Trondheim und Kristiansand werden in Bälde folgen. Ende kommenden Jahres sollen fernöstliche Akku-Autos dann auch bei uns rollen. Man darf vermuten, dass München, Berlin und Frankfurt das vorrangige Ziel sein werden.
Das klingt mutig für ein Unternehmen, das Anfang 2020 noch am Rande einer Pleite stand – und folgerichtig für eines, das nur ein Jahr später einen Börsenwert von knapp 80 Milliarden Euro repräsentiert. Der deutsche Markt mag ja im internationalen Vergleich nicht besonders groß sein – doch wer auf sich hält, will sich gerne auch hier beweisen.
Nios Marken-Botschafter ist – wie könnte es anders sein: ein SUV. Groß, wuchtig und mit Platz für bis zu sieben Personen. Fünf mal zwei Meter Elektro-Brummer, komplett gehüllt in Aluminium. Und mit allerlei technischen Annehmlichkeiten. Schließlich muss man sich in diesem Segment jenen stellen, die im Wappen Stern, Ringe oder Weiß-Blau tragen.
Im großen Unterschied zu Deutschlands Premium-Marken allerdings geht Nio auch im Untergrund zu Werke. Per App-Steuerung fährt der Wagen in eine spezielle Garage, aus deren Boden ein hydraulischer Scheren-Heber unter dem Wagen andockt, automatisch die Schrauben löst und den leeren Akku in der Versenkung verschwinden lässt. Von der Seite rollt geladener Nachschub ein, Heber hoch, Schrauben rein, fertig. Klappt schneller, als man sein Käffchen gekippt hat. In China, wo der Wechsel-Stromer schon seit 2018 fährt, haben sich knapp zwei Drittel der Käufer für diese Option entschieden.
Großer Vorteil: Man muss sich nicht mit dem Wertverlust eines alternden Stromspeichers herumschlagen, hat stets das technisch Neueste unter dem, pardon: Hintern – und kann bei Bedarf sogar die Kapazität wechseln. 100 kW gibt es aktuell, 75 demnächst und 150 ab 2023. Den Wagen einfach vor einer „Swap Station“ abstellen – fünf Minuten später ist alles erledigt.
Der Akku-Tausch per Roboter vereint jede Menge Vorteile: Man muss bei schlechtem Wetter kein Kabel ausrollen, nicht für die komplette Ladezeit Schlange stehen, und obendrein werden die lagernden Batterien stets schonend gefüllt. Zudem taugen sie als Puffer, wenn – bei erneuerbaren Energien nicht unüblich – der Strom mal wieder plötzlich und heftig fließt. Nachteil: Nio muss deutlich mehr Akkus vorhalten als Autos im Umlauf sind. Und das Netz darf man durchaus als grobmaschig bezeichnen. Um die 20 „Swap Stations“ sollen bis Ende 2022 für ganz Norwegen in Betrieb sein.
Natürlich ist die Untergrundarbeit kein Muss. Auch an Steckdose, Wallbox und Schnelllader lässt sich der ES8 befüllen. Diejenigen, die das Auto komplett mit Akku gekauft haben, müssen das ohnehin tun. So oder so: Für Wartung und Reparaturen bieten die Chinesen einen Hol- und Bring-Service. Nio ist schließlich nicht um die Ecke – egal, welche Standorte es in Deutschland am Ende sein werden.
Wäre noch das Auto selbst: Da haben sie sich bei Nio nicht lumpen lassen und beim Auftragsfertiger JAC (Anhui Jianghuai Automobile Co.) schick was auf die luftgefederten Beine stellen lassen. Die gern zitierten Spaltmaße sind kein Thema, im Innenraum macht sich der ES8 schön angreifbar, und sogar die Ziersticke im Interieur sind exakt gesetzt. Sehr viel einladender kriegt man es auch bei Deutschlands Premium-Produzenten nicht. Sicherer übrigens ebenfalls nicht. Beim NCAP-Crash-Test stehen die maximalen fünf Punkte. Das war bei chinesischen Gefährten nicht immer der Fall.
Und so thront man da. In bequemen Fauteuils, von denen sich der des Beifahrers inklusive Fußstütze zu einer ledernen Lümmelliege entpacken lässt – auch falls man während des Ladens statt des Heißgetränks mal ein Nickerchen bevorzugt. „Da legst di nieder“, würde der Bayer sagen. Mit sehr viel Bewunderung – und einem Hauch von Neid. Okay, im Gegenzug büßt man das traditionelle Handschuhfach ein, stattdessen aber hat’s ausreichend Stauraum unter der schwebenden Mittelkonsole.
In Schwung gebracht wird der Zweieinhalbtonner mit 400 kW (544 PS), die sich intelligent auf alle vier Räder verteilen. So schiebt der ES8 bei Bedarf mächtig vorwärts und kommt in 4,9 Sekunden auf eine dreistellige Tacho-Anzeige – nachhaltiger indes ist das souveräne Dahingleiten. Sänftengleich und schallgedämmt gegen all das Hektische da draußen.
Das serienmäßige Luftfahrwerk stammt übrigens von Conti und ist somit über jeden Zweifel erhaben. In schnellen Kurvenfolgen neigt der ES8 zwar ein wenig zum Neigen, allerdings ist die wilde Hatz auch eher nicht seine Kernkompetenz. Dafür packen die Brembo-Zangen zu, dass es eine Freude ist. Aus Tempo 100 steht das Summ-Trumm nach gerade mal 33,8 Metern. Die Lenkung indes dürfte um die Mittelstellung herum durchaus stärker das Gefühl vermitteln, dass Vorderräder und Volant miteinander zu tun haben.
Rund um das digitale Cockpit und den Bildschirm über der Mittelkonsole geht es höchst aufgeräumt zu – was gut aussieht, bei so einfachen Dingen wie Heizung oder Lüftung aber auch stört. Der eine oder andere Drehregler hat eben doch was. Zusätzlich gibt es ein farbiges Head-up-Display – und auf Wunsch Nomi, eine Art Smiley-Version von Alexa, die sprachliche Wünsche erhört und mit den digitalen Augen zwinkert.
Ungewohnt: Der ES8 braucht weder Zündschloss noch Startknopf. Einfach Hebel Richtung D und los. Der Knopf für die Parkstellung indes sitzt etwas versteckt an der Seite – und so genau sieht man nicht immer, ob „P“ nun leuchtet und das parkende Gefährt auch tatsächlich gesichert steht. Pfiffig: Die Rücksitzbank ist dank Schienen im Boden weit verstellbar, so dass man notfalls auch in Reihe drei auskömmlich sitzen kann. Wer lieber Lasten bewegt als Leute: Für den fünfsitzigen ES8 stehen knapp 900 Liter Stauraum im Datenblatt, umklappt gut das Doppelte. Der Preis für das Gefühl von Q7 oder X5 ist allerdings eine verhältnismäßig hohe Ladekante.
Wie die endgültigen Versionen für Deutschland aussehen, steht aktuell noch nicht fest. Man darf aber davon ausgehen, dass die kleine Batterie für 375 Kilometer (WLTP) reichen wird, die mittlere für 500. Ob es allerdings bei der Höchstgeschwindigkeit von 200 Stundenkilometern bleibt, ist nicht nur angesichts der laufenden Tempo-Diskussion offen. Auch in China gilt schließlich Buch eins der Batterie-Bibel: Dynamik kostet Distanz.
In Norwegen wird die Basis-Version mit 75-kWh-Batterie umgerechnet rund 60.000 Euro kosten, mit größerem Akku werden um die 8000 Euro mehr fällig – und mit voller Hütte ruft Nio rund 76.000 Euro auf. Mit der Möglichkeit des Tausch-Akkus spart man in Norwegen rund 8000 Euro beim Kauf und muss um die 200 Euro im Monat für die Batterie kalkulieren.
Die Preise für Deutschland stehen noch nicht fest, dürften sich aber nicht dramatisch unterscheiden. Jedenfalls sollte sich die Konkurrenz schon mal warm anziehen. Es könnte sein, dass von Norden her bald Wind aufkommt.