Nissan lädt nach Sunderland ein – sehr spannend, denn kaum ein anderer Standort steht so exemplarisch für den frühen Einstieg eines Volumenherstellers in die Großserienproduktion von Elektroautos wie dieses Werk im Nordosten Englands. Bereits seit 2013 wird der Nissan Leaf im Nissan Motors Werk Sunderland gebaut. Damit gehört die britische Hafenstadt zu den Pionieren der europäischen Elektroauto-Fertigung. Über 280.000 Fahrzeuge der ersten beiden Generationen sind hier entstanden. Diese Erfahrung bildet die Grundlage für den umfassenden Umbau des Werks, den Nissan im Zuge der dritten Leaf-Generation umgesetzt hat.
Und den hat sich Nissan ordentlich was kosten lassen: Rund 450 Millionen Pfund (ca. 512 Millionen Euro) flossen in neue Anlagen, Prozesse, Qualifizierungsmaßnahmen und Infrastruktur. Im Rahmen der Start-of-Production-Zeremonie an Fertigungslinie 2, der wir beiwohnen dürfen, lobt UK-Industrieminister Chris McDonald die hohen Investitionen sowie die damit verbundenen Hoffnungen, die Nissan in den Standort setzt, und bezeichnet diese als „verfrühtes Weihnachtsgeschenk für ganz Sunderland“.

Insbesondere in Kombination mit der jüngsten Ankündigung der britischen Regierung, die Förderung für Elektroautos um 1,3 Milliarden Pfund aufzustocken und die Kaufprämien sowie weitere Anreize bis 2030 zu verlängern, sei dies ein sehr gutes Zeichen für die Region sowie für die Elektromobilität im Allgemeinen.
EV36Zero: Große Vision für die Elektromobilität
Der massive Umbau des Werks bildet einen Teil von Nissans sogenannter EV36Zero-Vision, anhand derer der japanische Traditionshersteller Fahrzeugproduktion, Batteriefertigung und erneuerbare Energien an einem Standort zusammenführen will. Sunderland soll damit zur Blaupause für eine integrierte, möglichst CO₂-arme Automobilproduktion werden. Entsprechend tiefgreifend fallen die Veränderungen aus: Das Werk präsentiert sich heute weniger als klassische Autofabrik, sondern vielmehr als hoch digitalisierter Produktionsstandort.

Virtual-Reality-Anwendungen kommen bereits in der Planungsphase neuer Produktionsprozesse zum Einsatz. Ergänzt wird dies durch digitale Abbilder des Werks und Big-Data-Dashboards, die in Echtzeit Daten zu Energieverbrauch, Qualität, Taktzeiten und Effizienz liefern. Entscheidungen auf dem Shopfloor basieren damit zunehmend auf aktuellen Daten statt auf nachgelagerten Auswertungen. In der Press- und Kunststoffwerkstatt wurden 137 neue Pressformen installiert, mit denen die 42 Karosserieteile des neuen Leaf gefertigt werden. In der Karosseriewerkstatt arbeiten 78 neue Roboter, darunter eine vollautomatische Laserschweißanlage, die das Dach des Leaf mit einer Präzision von 0,3 Millimetern verschweißt. Das ermöglicht nicht nur ein sauberes Design, sondern erhöht auch Maßhaltigkeit und Strukturqualität.
Nissan betreibt außerdem unweit des Fertigungsstandorts eine PV-Anlage mit einer Leistung von etwa 20 MW, die ein Fünftel des Produktionsstätten-Strombedarfs decken soll – genug, um jeden in Sunderland vom Band rollenden Leaf mit lokal erzeugtem Grünstrom herzustellen.

Ein weiterer Schlüssel zur EV36Zero-Strategie liegt direkt gegenüber des Nissan-Werks: die neue AESC-Gigafactory. Sie liefert Batterien der nächsten Generation mit höherer Energiedichte für den neuen Leaf. Die unmittelbare räumliche Nähe verkürzt Transportwege, senkt Emissionen und erhöht die Versorgungssicherheit. Sunderland wird so von einem Produktionsstandort zu einem vernetzten EV-Ökosystem ausgebaut.
Neben Technik und Infrastruktur stand laut Adam Pennick, Vice President Manufacturing UK, vor allem die Qualifizierung der Belegschaft im Fokus. Rund 6000 Mitarbeiter arbeiten im Werk Sunderland, für die Umstellung auf die dritte Leaf-Generation habe Nissan mehr als 360.000 Schulungsstunden investiert. Der Umbau des Werks ist damit nicht nur ein technologischer, sondern auch ein organisatorischer und kultureller Transformationsprozess, auf den man sehr stolz sei. „Wir haben in Elektroautos investiert, lange bevor die anderen auf den Trichter gekommen sind“, betont Pennick. Dieser Mut zahle sich nun aus.
Erster Tag an der Linie: Der neue Nissan Leaf entsteht
Soweit die Präsentation, jetzt geht es ab zur Werksführung – und dank dreier elektrischer Buggys, mit denen wir komfortabel durch die riesige Anlage geshuttelt werden, lassen sich viele Eindrücke in kürzester Zeit ohne jegliche Anstrengung gewinnen. Es ist der erste Produktionstag des Nissan Leaf in der dritten Generation, und da der Wagen auf derselben Fertigungslinie mit dem Qashqai und dem Juke gebaut wird, muss man genau hinschauen, um zu erkennen, welche der vorbeischwebenden Karosserien denn jetzt eigentlich zum Neuen im Bunde gehören.

Production Manager Andy Robinson, der uns durch die Fabrik führt, verrät mir schließlich einen einfachen Trick, anhand dessen sich der Leaf direkt erkennen lässt: Da die Produktion gerade erst frisch begonnen hat und die Arbeiter noch nicht die nötige Routine für die erforderlichen Schritte haben, bleibt der Schlitten vor und hinter einem Leaf in den ersten Tagen noch frei, um den Monteuren vorerst die dreifache Arbeitszeit zu gewähren. Mit diesem Gedanken im Kopf suche ich die Fertigungslinie ab und finde schließlich ein Fahrzeug mit einer Lücke davor und dahinter. Andy schaut auf seine Liste und grinst anerkennend. Das sei erst der fünfte Leaf heute, sagt er mir. Ich habe großes Glück, direkt einen erhascht zu haben.

Mit großen Augen schaue ich schließlich dabei zu, wie die Batterie vollautomatisch eingebaut wird. Der gesamte Vorgang dauert gerade einmal 56 Sekunden und erfolgt mit exakt 26 Schrauben. Der Prozess sei nicht nur hochpräzise, sondern auch ergonomisch optimiert und reduziere manuelle Eingriffe auf ein Minimum, erklärt Andy. Anschließend erfolgt die Hochzeit: der Moment, in dem Karosserie und Antriebsstrang zusammengeführt werden. Der Leaf schwebt weiter, und die Monteure widmen sich dem nächsten Fahrzeug.
Weitere Elektro-Modelle für Sunderland angekündigt
Noch ist der Leaf das einzige Elektro-Modell, das in Sunderland produziert wird, aber ab dem kommenden Jahr wird vollelektrische Nissan Juke ebenfalls in Nordostengland vom Band laufen. Damit entwickelt sich die zweite Produktionslinie zunehmend zur zentralen Plattform für Nissans europäische Elektrifizierungsstrategie. Unterstützt wird die Linie von 475 fahrerlosen Transportfahrzeugen, die Bauteile direkt an die jeweiligen Stationen liefern und klassische Staplerlogistik weitgehend ersetzen. Ich staune während der Werksführung immer wieder darüber, dass unsere Journalisten-Buggys nicht mit den kleinen autonomen Gefährten kollidieren, aber jeder scheint hier genau zu wissen, wie man sich die engen Transportwege zwischen den Bändern zu teilen hat.

Am Ende der Werksführung wird deutlich, welchen Stellenwert Elektromobilität in Sunderland inzwischen einnimmt, obwohl noch zum größten Teil Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren vom Band rollen. Aber der Standort ist eben nicht auf ein einzelnes Modell vorbereitet worden, sondern strukturell auf elektrische Antriebe ausgerichtet.
Der Nissan Leaf, der hier seit mehr als zehn Jahren gefertigt wird, bildet dabei den Ausgangspunkt dieser Entwicklung. Mit der dritten Generation zeigt sich, wie ein bestehendes Werk schrittweise transformiert werden kann, und zwar entlang realer Produktionsprozesse und nicht nur auf dem Papier. Sunderland steht damit exemplarisch für den industriellen Umbau, vor dem große Teile der europäischen Automobilproduktion ebenfalls stehen – ob sie diesen Umbruch genauso motiviert vollziehen können, wird sich zeigen.







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