Das Bundeskabinett hat vor wenigen Tagen die Roadmap Systemstabilität des Bundeswirtschaftsministeriums beschlossen. Damit stellt der Staat die Weichen für einen sicheren Umbau des Energiesystems, in dem es auch bei einer steigenden Einspeisung von volatilen Erzeugern wie Wind und Sonne zu keinen Netz- und Versorgungsengpässen kommt.
Deutschland befindet sich mitten in der Umsetzung der Energiewende, bis 2030 sollen mindestens 80 Prozent unseres Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien gedeckt werden – vor allem aus Wind- und Solarenergie. Das Stromsystem muss in Deutschland etwa 2035 weitgehend klimaneutral sein, damit alle übrigen Sektoren bis 2045 klimaneutral sein können – das zeigen Szenarien der Internationalen Energieagentur (IEA). Dieser Umbau verändert die Stromversorgung in Deutschland grundlegend. Zukünftig wird es immer mehr und längere Zeiträume geben, in denen die Stromnachfrage zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt wird.
Diese Veränderung in der Erzeugungsstruktur hat auch Einfluss auf den Betrieb des Stromnetzes. Die Erneuerbaren-Anlagen sind im Vergleich zu konventionellen Kraftwerken in der Regel im Verteilnetz und über leistungselektronische Stromrichter an das Stromnetz angeschlossen. Daraus ergeben sich andere Anforderungen, aber auch neue Möglichkeiten, um einen sicheren und robusten Netzbetrieb zu gewährleisten.
Für einen sicheren Betrieb des Stromnetzes und für die Gewährleistung der Systemstabilität spielen die sogenannten Systemdienstleistungen eine zentrale Rolle, unter anderem die Regelung von Frequenz und Spannung des Wechselstroms. Beispielsweise stellen die Synchrongeneratoren konventioneller Kraftwerke neben dem erzeugten Strom auch eine Trägheitskomponente bereit („Momentanreserve“), die stabilisierend auf Frequenzänderungen im Stromsystem wirkt.
Das Ausscheiden konventioneller Kraftwerke hat somit zur Folge, dass deren stabilisierende Eigenschaften zukünftig alternativ erbracht werden müssen. Erneuerbare Stromerzeugungsanlagen sowie andere Anlagen wie z.B. Speicher und Ladeeinrichtungen für die Elektromobilität oder Anlagen der Netzbetreiber müssen hierfür weiterentwickelt werden und diese Aufgaben übernehmen.
Insgesamt gehen mit diesem Systemwandel neue Herausforderungen für Netzbetreiber und Marktteilnehmer sowie Weiterentwicklungsbedarf für Netzbetriebskonzepte und technische Spezifikationen von Anlagen einher. Vor diesem Hintergrund wurde im Koalitionsvertrag 2021 die Erarbeitung einer Roadmap Systemstabilität unter Leitung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) festgelegt.
Der Fahrplan steht
Die Roadmap Systemstabilität ist dem BMWK zufolge ein zentraler Baustein für den Umbau des Stromsystems im Rahmen der Energiewende. Sie stelle erstmals die notwendigen Weiterentwicklungen zur Wahrung der Systemstabilität strukturiert dar.
Die Roadmap Systemstabilität wurde von Herbst 2022 bis Ende 2023 unter der Leitung des BMWK in einem breiten Beteiligungsprozess unter aktiver Mitwirkung verschiedener Branchen erarbeitet. In vier thematischen Arbeitsgruppen mit elf Unterarbeitsgruppen und begleitet von einem Beirat wurde auf Basis von insgesamt mehr als 70 Sitzungen gemeinsam die Roadmap Systemstabilität ausgetüftelt. Insgesamt waren mehr als 150 Personen aus mehr als 80 Institutionen beteiligt, darunter Vertreter von Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern, Anlagenherstellern, Verbänden, Normungsgremien und der Wissenschaft. Koordiniert wurde der Prozess von einer Projektsteuergruppe bestehend aus dem BMWK, der Bundesnetzagentur, dem Energiesektor-Beratungsunternehmen ef.Ruhr und der Deutschen Energie-Agentur (Dena).
Als Kernaufgabe der Roadmap war dem BMWK zufolge die Frage „WAS muss WER bis WANN umsetzen“ gesetzt. Es galt also auf prozessualer Ebene aufzuzeigen,
- welche Schritte für einen stabilen Betrieb des Stromnetzes mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien eingeleitet werden müssen,
- wann diese stattfinden sollen und
- welche Akteure jeweils die Prozesse koordinieren sollen.
Als Grundlage für die Erarbeitung der Roadmap wurde zunächst zusammen mit den beteiligten Akteuren ein gemeinsames Zielbild mit den Funktionalitäten des zukünftigen Stromversorgungssystems entwickelt. Mithilfe dieses Zielbildes wurden dann Herausforderungen hinsichtlich eines stabilen und robusten Systembetriebs mit 100 Prozent erneuerbaren Energien beschrieben. Daraus wurden Prozesse abgeleitet, die für die Erreichung des Zielsystems angepasst oder neu aufgesetzt werden müssen. Die Ableitung der Prozesse erfolgte auf Basis der inhaltlichen Arbeit der vier Arbeitsgruppen. Es wurden übergeordnete, verbindende Prozesse identifiziert, alle Prozesse wurden zeitlich eingeordnet und es wurden Querbezüge zwischen den verschiedenen Prozessen identifiziert.
Das Herzstück der Roadmap Systemstabilität stellt der „Meilensteinplan“ dar, der einen konkreten Transformationspfad hin zu einem sicheren und robusten Systembetrieb mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien liefert. Als zusätzliche Hintergrundinformationen stehen auf den Seiten des BMWK neben der Roadmap Systemstabilität auch Themenpapiere der Arbeitsgruppen zum Download zur Verfügung. Sie zeigen den Diskussionsstand der Arbeitsgruppen auf.
WAS muss WER bis WANN umsetzen?
Der besondere Mehrwert der Roadmap Systemstabilität besteht laut BMWK darin, dass sie erstmalig einen konkreten Fahrplan zur Erreichung eines sicheren und robusten Betriebs des Stromsystems mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien aufzeigt.
Es wurden insgesamt 51 Prozesse identifiziert und 18 zentrale Meilensteine bis zum Jahr 2030 festgelegt. Die folgende Abbildung zeigt einen Überblick über die zentralen Meilensteine. Die einzelnen Prozesse sowie die zentralen Meilensteine werden in der Roadmap Systemstabilität (verlinkt als PDF) detailliert erläutert.
Die zentralen Meilensteine können noch einmal zu drei Pfaden verdichtet werden:
- Erster Pfad – Definition des Sicherheitsniveaus für das Stromsystem und Bestimmung der Systembedarfe: Für das Stromsystem muss überprüft werden, für welche Bereiche bereits ein angestrebtes Sicherheitsniveau definiert ist. Für die Bereiche des Stromsystems, für die es noch kein definiertes Sicherheitsniveau gibt, muss eine Festlegung erfolgen. Aufbauend auf diesen Sicherheitsniveaus können dann sogenannte auslegungsrelevante Fälle definiert werden. Auslegungsrelevante Fälle beschreiben planbare und nicht planbare Ereignisse, mit denen das Stromsystem konfrontiert werden kann und die es zu beherrschen gilt. Auf Basis der definierten auslegungsrelevanten Fälle kann im nächsten Schritt eine Quantifizierung der Bedarfe an den einzelnen Systemdienstleistungen erfolgen.
- Zweiter Pfad – Deckung der Systembedarfe: Die Deckung und strukturierte Beschaffung der identifizierten Bedarfe an den einzelnen Systemdienstleistungen stellen den zweiten zentralen Pfad dar. Hierzu sind geeignete Beschaffungsverfahren einzuführen und umzusetzen. Grundsätzlich gibt es für die Beschaffung von Systemdienstleistungen drei verschieden „Säulen“, die auch parallel verfolgt werden:
Säule 1: Systemdienstleistungen aufgrund verpflichtender technischer Anforderungen an die Anlagen (technische Anschlussregeln)
Säule 2: freiwillige vergütete Erbringung von Systemdienstleistungen durch Marktakteure (marktgestützte Beschaffung)
Säule 3: Systemdienstleistungen durch Netzbetriebsmittel der Netzbetreiber - Dritter Pfad – Etablierung von netzbildenden Stromrichtern: Netzbildende Stromrichter stellen für das Zielsystem mit 100 Prozent erneuerbaren Energien eine Schlüsseltechnologie zur Wahrung der Systemstabilität dar. Anlagen mit netzbildenden Stromrichtern können aktiv eine Spannung für das Stromnetz vorgeben und eine Trägheit zur Stabilisierung von Frequenzschwankungen (Momentanreserve) bereitstellen. Dabei handelt es sich um eine relativ neue Technologie. Für einen flächendeckenden Einsatz müssen deshalb Erfahrungen gesammelt werden. Dies kann im Rahmen von Forschungs- und Pilotprojekten sowie einer marktgestützten Beschaffung erfolgen. Auf Grundlage dieser Erfahrungen können dann technische Anforderungen für Anlagen und die dort verwendeten netzbildenden Stromrichter definiert bzw. weiterentwickelt werden.
Insgesamt wurden im Rahmen der Roadmap Systemstabilität 51 Prozesse identifiziert. Diese müssen nun von den verschiedenen Akteuren angestoßen oder angepasst und umgesetzt werden. In nahezu allen Prozessen sind mehrere Akteure involviert und müssen Teilprozessverantwortungen übernehmen. Es bestehen zudem Abhängigkeiten zwischen den Prozessen. Die Umsetzung der Roadmap Systemstabilität müsse deshalb, wie schon bei der Erstellung, von allen Akteuren engagiert und konstruktiv begleitet werden. Nur durch eine gute Zusammenarbeit könne das übergeordnete Ziel des klimaneutralen Stromsystems erreicht werden.
Das BMWK und die Bundesnetzagentur wollen die erfolgreiche Umsetzung der Roadmap wieder aktiv unterstützen und begleiten. Dazu ist beispielsweise ein „Forum Systemstabilität“ geplant. Dabei handelt es sich um eine regelmäßige Austauschplattform für die Akteure, die für die Umsetzung der verschiedenen Roadmap-Prozesse verantwortlich sind. Das „Forum Systemstabilität“ soll auch für ein Monitoring über die Umsetzung der Maßnahmen und Prozesse der Roadmap Systemstabilität genutzt werden. Ein Anhaltspunkt sind dabei die in der Roadmap identifizierten zentralen Meilensteine. Sie stellen die Schlüsselpunkte der Transformation im Bereich Systemstabilität dar und können deshalb als Orientierung über den Fortschritt der Umsetzung der Roadmap dienen.
Ein zentrales Puzzlestück für die Energiewende
Das Forum Netztechnik/Netzbetrieb im VDE (VDE FNN) war an der Erarbeitung der Roadmap beteiligt. „Das gesamte Energiesystem verändert sich stark. Die Versorgung soll dabei so zuverlässig wie gehabt bleiben. Als technischer Regelsetzer für die Stromnetze arbeiten wir an den dafür notwendigen Anforderungen an Erzeugungsanlagen und Verbraucher sowie an den Netzbetrieb“, so Dr. Joachim Kabs, Vorsitzender des VDE FNN. Nach Abschaltung der konventionellen Kraftwerke werde das System in Deutschland durch erneuerbare Erzeugungsanlagen geprägt, sagt er. „Dementsprechend müssen die Fähigkeiten, die bisher von Großkraftwerken erbracht werden, künftig durch die neuen Anlagen, wie Photovoltaik- und Windkraftanlagen oder Speicher übernommen werden“. Explizit mit in der Roadmap eingeplant dafür sind Elektroautos und deren Rückspeisefähigkeit ins Stromnetz durch bidirektionales Laden.
In Zukunft werde es nicht mehr ausreichen, dass neue Anlagen nur Strom produzieren, speichern oder beziehen können: Jede Photovoltaik-, jede Windkraftanlage und jeder Speicher, die neu ans Netz gehen, müssen auch einen Beitrag zur Systemstabilität leisten. In den Technischen Anschlussregeln von VDE FNN sollen hierfür Fähigkeiten definiert werden und wie diese nachgewiesen werden können.
Dr. Dirk Biermann, stellvertretender Vorsitzender von VDE FNN: „Die neuen Anlagen sind mit Wechselrichtern an das System angeschlossen, also mit Leistungselektronik. Die Wechselrichter müssen so ausgeführt sein, dass sie netzbildend sind“. Das sei wichtig, um die Spannung und die Frequenz stabil zu halten. Einer der Schwerpunkte für das VDE FNN sei deshalb die Definition der technischen Anforderungen und Nachweise an netzbildende Wechselrichter.
Die Generatoren in den konventionellen Kraftwerken sind seit jeher netzbildend. Ihre Schwungmassen sorgen dafür, dass das System ausreichend träge auf Störungen reagiert und wieder in den sicheren Betriebszustand zurückkehren kann. Sie stellen wie selbstverständlich die Systemstabilität sicher. Die erneuerbaren Erzeugungsanlagen machen dies noch nicht.
„Wenn die Großkraftwerke wegfallen, müssen wir darüber reden, wie wir im zukünftigen System für ausreichend Stabilität sorgen“, fügt Heike Kerber hinzu, Geschäftsführerin des VDE FNN. VDE FNN und andere Akteure arbeiten demnach bereits „intensiv an der Umsetzung. Denn von 2025 an sollen alle neu angeschlossenen Anlagen im System stabilisierend wirken“, so Kerber.
Quelle: BMWK – Mitteilung vom 06.12.2023 // VDE FNN – Pressemitteilung vom 06.12.2023