Herbert Diess sieht im bisherigen Ergebnis des Handelsstreits zwischen den USA und Europa ein deutliches Ungleichgewicht. Während Washington die eigenen Industrien schützt und stärkt, fehle Europa eine klare Strategie. Vertreter der EU verharren seiner Einschätzung nach in einem nostalgischen Bild der transatlantischen Partnerschaft. Diese Haltung sei realitätsfern, weil die USA heute in vielen Bereichen gegen zentrale europäische Werte wie Demokratie, Vielfalt und Meinungsfreiheit handelten. Statt Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft zu übernehmen, dominiere ein enges Denken in kurzfristigen Vorteilen für einzelne Industrien wie Öl, Waffen oder Finanzmärkte.
Der von Brüssel ausgehandelte Handelsdeal gilt Diess deshalb als unzureichend, wie er in einem Kommentar in der Wirtschaftswoche zu verstehen gibt. Länder wie China oder Japan hätten deutlich bessere Bedingungen durchgesetzt, während Europa zurückbleibe. Die Vereinigten Staaten nutzten ihre Macht rücksichtslos. Der Absatz fossiler Energien werde gezielt forciert, auch wenn das den Klimawandel beschleunige. Zudem profitiere eine kleine US-Elite von Abhängigkeiten, die andere Länder schwächten. Damit verbunden sei auch der Versuch, die politische Kultur neu zu prägen: konservativ, wissenschaftsfeindlich und undemokratisch.
Europa müsse diese Entwicklung nicht akzeptieren. Diess betont, dass die Abhängigkeit der USA von europäischen Daten und Märkten unterschätzt werde. Während in Europa mehr als 450 Millionen Menschen digitale Dienste nutzen, sind es in den USA nur etwa 350 Millionen. Diese Daten bilden die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der großen amerikanischen Technologiekonzerne. In der Marktkapitalisierung spiegeln sich diese Abhängigkeiten wider. Ein Umdenken in der europäischen Politik könnte hier zu einem neuen Selbstbewusstsein führen.
Künstliche Intelligenz eröffnet Vielzahl von Möglichkeiten für Europa
Besonders die Revolution durch Künstliche Intelligenz eröffnet nach seiner Ansicht ein Zeitfenster. Europa könnte eigene Alternativen zu Suchmaschinen, sozialen Netzwerken oder Cloud-Angeboten aufbauen. Die Monopolstellung US-amerikanischer Konzerne sei längst nicht mehr selbstverständlich. Diess selbst beschreibt, dass er Google nur noch selten nutze. Europa könne durch gezielte Regulierung und Investitionen seine Position im globalen Wettbewerb verbessern.
Die Chancen seien nicht allein auf Daten beschränkt. In Forschung und Wissenschaft gebe es bereits eine starke Basis. Europäische Universitäten spielten in Bereichen wie Quantencomputing, Biologie oder Fusionsforschung vorne mit. Nobelpreise und Ausgründungen in Start-ups belegten diese Stärke. Zudem biete die restriktive US-Politik in bestimmten Fachgebieten eine Möglichkeit, Spitzenforscher nach Europa zu holen, wo sie mehr Freiheiten genießen.
Auch die Rivalität zwischen den USA und China eröffne Spielräume. Europa sei vor allem Anwender neuer Technologien, doch das müsse kein Nachteil sein. Wettbewerb zwischen Anbietern könne dafür sorgen, dass europäische Kunden profitieren. Beispiele wie der chinesische KI-Dienst DeepSeek oder Systeme wie ChatGPT machten deutlich, wie groß die Dynamik sei. Ziel müsse es sein, diese Werkzeuge gezielt einzusetzen, statt sich von einzelnen Konzernen abhängig zu machen.
Denn auch im Bereich Künstliche Intelligenz sei nicht garantiert, dass die heutigen Marktführer am Ende die größten Gewinner sein würden. Für Europa liege die Aufgabe darin, Wissen zu sichern und einen offenen Wettbewerb um neue Dienste anzustoßen. Diess fordert deshalb mehr Eigenständigkeit in der europäischen Politik. Die EU-Kommission handle zu vorsichtig und sei nicht bereit, neue Wege einzuschlagen. Notwendig sei jedoch eine klare Agenda: ein gemeinsamer Kapitalmarkt, eine unabhängige Verteidigungsindustrie und eine Außenpolitik, die europäische Werte aktiv vertrete. Dazu zählten Offenheit, Kooperation und Frieden.
Diess sieht Deutschland in besonderer Verantwortung
Deutschland habe als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt eine besondere Verantwortung. Bundeskanzler Friedrich Merz stehe in der Pflicht, Orientierung zu geben und Partner in Europa zu überzeugen. Viele Mitgliedsstaaten sähen das ähnlich, doch es fehle an einer entschlossenen Führung. Der Ukrainekrieg verdeutliche die Lage: Während Europa enorme Kosten trage, profitierten die USA mit ihrer Waffenindustrie und dem Export fossiler Energien, ohne eigene Soldaten zu gefährden.
Für Diess steht fest, dass ein Mentalitätswechsel nötig ist. Politiker müssten den Mut haben, neue Realitäten anzuerkennen. Sprachbarrieren, die bisher als Hindernis galten, könnten mit Hilfe von KI bald verschwinden. Damit würde die europäische Vielfalt sogar zu einem Vorteil. Auch im Bereich Kunst und Kultur eröffne sich eine Chance, eigene Akzente zu setzen und Marken zu stärken.
Europa sei zudem ein attraktiver Standort für Menschen weltweit. Diese Nachfrage müsse stärker als Ressource begriffen werden. Diess geht so weit zu sagen, dass Besucher Eintritt zahlen könnten – besonders dann, wenn sie Europa mit Zöllen oder politischem Druck begegnen. Damit knüpft er an seine zentrale Forderung an: Europa müsse sein Schicksal selbst gestalten, statt sich unterzuordnen.
Quelle: Wirtschaftswoche – „Amerika ist abhängiger von Europa, als man uns vormachen will“