Im Interview mit der Automobilwoche spricht Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), über die derzeitige Krisenlage der deutschen Automobilindustrie und äußert deutliche Kritik an den politischen Rahmenbedingungen in Deutschland und der EU. Müller stellt klar, dass die aktuellen Standortbedingungen „kein ‚Weiter so‘ mehr erlauben“ und dass zehntausende Arbeitsplätze sowie ganze Wertschöpfungsketten in Gefahr seien. Sie beschreibt die Situation als „wirklich extrem“ und fordert ein schnelles Umdenken seitens der Politik.
Müller verweist darauf, dass die Warnungen der Industrie über Jahre hinweg zwar gehört, aber nicht mit den notwendigen Maßnahmen beantwortet worden seien. In Berlin und Brüssel beobachte sie eine „Realitätsverweigerung“. Sie fordert deshalb eine stärkere Priorisierung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit durch die neue EU-Kommission. Der kürzlich veröffentlichte Bericht von Mario Draghi zur Zukunft der europäischen Automobilindustrie unterstütze in Teilen diese Forderungen, so Müller. Der Bericht zeige auf, dass die EU in den vergangenen Jahren massiv an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt habe, während gleichzeitig die Regulierung zugenommen habe. Sie betont: „Die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft muss für die neue EU-Kommission höchste Priorität haben.“
Die VDA-Präsidentin spricht sich klar für mehr Technologieoffenheit aus, die sie als „ganz entscheidend“ für das Erreichen der Klimaziele bezeichnet. Sie fordert die Politik auf, CO₂-Reduktionsziele zu setzen, aber auch unterstützende Rahmenbedingungen zu schaffen, insbesondere mit Blick auf den Ausbau der Ladeinfrastruktur. Zudem kritisiert sie die hohen Energie- und Arbeitskosten, die zunehmende Bürokratie und die umfangreiche Regulierung durch die Europäische Kommission, die Investitionen hemmen und die Wettbewerbsfähigkeit gefährden. „Die deutsche Automobilwirtschaft ist mit ihren Produkten absolut wettbewerbsfähig, der deutsche Standort aber immer weniger“, erklärt Müller.
Produktionsverlagerung ins Ausland sei „bittere Notwendigkeit“
Auf die Frage, ob die Autohersteller nicht genug getan hätten, um die Verbraucher von der Elektromobilität zu überzeugen, antwortet sie entschieden: „Diese Krise ist in der Hauptsache Folge einer über Jahre falsch gelaufenen Wirtschafts- und Innovationspolitik.“ Sie widerspricht damit dem europäischen Industriekommissar Thierry Breton und anderen Politikern, die die Verantwortung vor allem bei den Herstellern sehen. Müller verweist auf die Transformationsstudie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), die zeige, dass rund 20 Prozent der deutschen industriellen Wertschöpfung akut bedroht seien.
Hinsichtlich der geopolitischen Herausforderungen wie der lahmenden Konjunktur, anhaltender Zinsbelastungen und Krisen wie dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine räumt die Präsidentin des VDA ein, dass diese Faktoren die Lage weiter verschärfen. Doch sie macht auch deutlich, dass viele Unternehmen inzwischen gezwungen seien, ihre Investitionen ins Ausland zu verlagern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Sie sieht darin keine Drohung, sondern eine „bittere Notwendigkeit“.
Müller betont, dass auch innerhalb Europas ein Verlagerungswettbewerb entstehe, da die EU-Staaten nicht an einem Strang ziehen würden. Besonders kritisiert sie die europäischen Ansätze in der Energiepolitik und bei Regulierungen wie der geplanten Batterie-Verordnung, die Unternehmen aus Europa vertreiben würden. Sie spricht sich gegen den europäischen Ansatz des „Mikromanagements“ aus und fordert stattdessen einen Ordnungsrahmen, der Investitionen anregt. Zur Frage eines europäischen Inflation Reduction Act nach dem Vorbild der USA zeigt sich Müller als überzeugte Europäerin, lehnt jedoch die protektionistischen Elemente solcher Maßnahmen ab. Sie lobt die USA dafür, attraktive Investitionsbedingungen zu schaffen und fordert, dass die EU ebenfalls ihre Politik auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit fokussiert.
Weniger Bürokratie mehr Innovationskraft gefordert
In Bezug auf die Handelsbeziehungen mit China und den USA warnt die VDA-Präsidentin davor, dass die EU sich mit übertriebenen Anforderungen an die Lieferketten selbst schaden könnte. Sie kritisiert die Tendenz in der EU-Politik, Regelungen möglichst perfekt und allumfassend zu gestalten, was oft zu einem Stillstand bei Freihandelsabkommen führe. Abschließend fordert Müller eine drastische Entbürokratisierung und Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland, um die Wirtschaft zu entlasten. Sie verweist auf die 450 konkreten Vorschläge zur Bürokratie-Entlastung, die die deutsche Wirtschaft eingereicht hat, von denen jedoch bisher nur 34 vollständig umgesetzt wurden. „Hier braucht es dringend einen Mentalitätswandel,“ betont sie.
Mit Blick auf die Zukunft zeigt sich die VDA-Präsidentin dennoch optimistisch und glaubt, dass die deutsche Automobilindustrie ihre Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit auch in einem schwierigen Jahr wie 2025 beweisen wird. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass keine neuen unerwarteten Schwierigkeiten hinzukommen.
Quelle: Automobilwoche – VDA-Präsidentin Müller: „In Berlin und Brüssel gibt es zu viel Realitätsverweigerung“