Vor wenigen Tagen forderten mehrere Lobbygruppen der europäischen Automobilindustrie — einschließlich Hersteller, Zulieferer, Reifenhersteller und Händler — Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, in einem offenen Brief (hier als PDF) dazu auf, die ab diesem Jahr scharfgestellten CO2-Ziele für Neuwagen aufzuweichen.
Während die Lobbyverbände auf die „erheblichen Herausforderungen“ hinweisen, die sich aus der beispiellosen globalen Gesundheitskrise ergeben, fordern sie eine Verschiebung der CO2-Gesetze: „Wir glauben, dass einige Anpassungen am Zeitpunkt dieser Gesetze vorgenommen werden müssen“, heißt es in dem Schreiben. „Derzeit finden keine Produktions-, Entwicklungs-, Test- oder Homologationsarbeiten statt“, begründen die Verbände ihre Forderung: „Dies stört die Pläne, die wir gemacht hatten, um uns darauf vorzubereiten, bestehende und zukünftige EU-Gesetze und -Vorschriften innerhalb der in diesen Vorschriften festgelegten Fristen einzuhalten“, heißt es in dem Brief.
Ein genauerer Blick auf die Fakten zu den Klimazielen zeigt allerdings, dass ein solches Plädoyer derzeit unbegründet ist und möglicherweise die langfristige Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der Automobilindustrie in Europa beeinträchtigt, berichtet Transport & Environment, ein unabhängiger Zusammenschluss europäischer und ökologisch orientierter Automobilverbände.
Das CO2-Gesetz ist die derzeit wichtigste EU-weite Maßnahme zur Verringerung der stetig steigenden Klimaauswirkungen von Autos, die 14 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen der EU und 70 Prozent der Emissionen des gesamten Straßenverkehrs ausmachen. Ab 1. Januar 2020 müssen die Emissionen von Neuwagenverkäufen in der EU im Durchschnitt unter 95 Gramm CO2 pro km liegen.
Warum die Forderung der Lobbyverbände unhaltbar ist
Das erste, was man hierbei berücksichtigen sollte, ist allerdings: Dieses Ziel wurde bereits im Jahr 2008 festgelegt und 2014 erneut bestätigt. Die Hersteller sollten also genügend Vorlauf gehabt haben, sich auf die schärferen Abgaswerte vorzubereiten. Außerdem handelt es sich zweitens um ein Flotten-Durchschnittsziel: Sinkende Autoverkäufe — wie etwa wegen der Corona-Krise — wirken sich daher nicht automatisch auch auf die Einhaltung des Grenzwertes aus.
Der dritte wichtige Punkt ist: Der Grenzwert ist ein CO2-Ziel, und kein Elektroauto-Verkaufsziel. Bei der ersten Vereinbarung im Jahr 2008 ging es weniger um Elektroautos, sondern vielmehr darum, die Hersteller zur Entwicklung und Produktion kleinerer und sparsamerer Autos zu bewegen. Aber weil die Autohersteller in den vergangenen Jahren lieber die SUV-Verkäufe forcierten, um ihre Gewinnmargen zu steigern, stiegen auch die Emissionen ihrer Autoflotten weiter an. Daher sind Elektroautos heute für viele die bevorzugte Option für die Einhaltung der Vorschriften geworden — als die beste Lösung für das Klima. In Krisenzeiten können aber auch kleine und billige Autos zur Einhaltung der Vorschriften beitragen.
Nehmen wir die vorherige globale Wirtschafts- und Sozialkrise von vor gut zehn Jahren als Richtschnur, so wird deutlich, dass Autokäufer in Zeiten einer Rezession vorrangig auf kleinere, weniger leistungsstarke (und somit auch emissionsärmere) Autos umsteigen. Nach der Wirtschaftskrise im Jahr 2009 sanken die CO2-Emissionen von Neuwagen um den Rekordwert von 5,1 Prozent. Großzügige und gezielte Abwrackprogramme in Verbindung mit wirtschaftlichen Unsicherheiten haben damals dazu beigetragen, dass die Nachfrage vor allem nach kleinen und günstigeren Fahrzeugen stark zunahm. Die Abwrackprogramme machten im Krisenjahr 2009 satte 86 Prozent aller Verkäufe aus. Und an Modellen, mit denen die Hersteller ihre CO2-Ziele einhalten können, mangelt es heute nicht: Derzeit gibt es allein von europäischen Herstellern mindestens drei Dutzend billige, kleine und mittlere konventionelle Benziner- und Diesel-Modelle mit einem CO2-Ausstoß von weniger als 95 Gramm je Kilometer. Fast jeder europäische Autobauer hat solche Modelle im Portfolio – zum Beispiel den VW Polo, den Ford Fiesta und den Renault Megane.
Deutsche Autohersteller distanzieren sich
Im Gegensatz zu ACEAs Angriff auf die neuen CO2-Vorschriften haben sich die drei deutschen Autohersteller Volkswagen, Daimler und BMW öffentlich für die Beibehaltung der Grenzwerte ausgesprochen. Ein VW-Konzernsprecher etwa sagte, dass „eine Aussetzung der CO2-Strafzahlungen derzeit bei Volkswagen nicht diskutiert“ werde. Auch Daimler-Chef Ola Källenius erklärte: „Wir gehören nicht zu denen, die sich um eine Veränderung der Emissionsrichtlinien bemüht haben.“ Dies wirft die Frage auf, ob es einen Bruch in der europäischen Autoindustrie gibt und ob ACEA nur im Namen seiner Nachzügler spricht.
„Jetzt geht es vorrangig darum, die Gesundheit, Sicherheit und Arbeitsplatzsicherheit der von den derzeitigen Fabrikschließungen betroffenen Arbeitnehmer zu gewährleisten. Während die gesamtwirtschaftliche Erholung von entscheidender Bedeutung ist, sollten wir nicht zulassen, dass einige opportunistische Autohersteller die Krise nutzen, um die EU-Klimaziele für Autos schamlos zurückzudrängen. Alle drei deutschen Automobilhersteller, VW, Daimler und BMW, haben zu Recht eingeräumt, dass dies auch gar nicht erforderlich ist.“ — Julia Poliscanova, Direktorin für nachhaltige Fahrzeuge bei der Forschungs- und Kampagnengruppe für nachhaltigen Verkehr bei T & E
Es sei noch zu früh, um die Auswirkungen des Coronavirus auf die Autoindustrie beurteilen zu können, so Poliscanova weiter. Auch sie verweist darauf, dass der Verkauf von weniger Autos keinen Einfluss auf die Einhaltung der Grenzwerte habe: „Was zählt, ist die Art des Autos, das Sie verkaufen.“ Alle Anreize zur Steigerung der Nachfrage nach der Wiederaufnahme des normalen Lebens sollten auf emissionsfreie Autos gerichtet sein, sagte sie weiter. Dies könne dazu beitragen, Arbeitsplätze in Europa zu erhalten, die Umweltverschmutzung einzudämmen und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Autoindustrie zu steigern.
Quelle: Transport & Environment — EU car lobby’s renewed attack on cars CO2 targets – on the back of COVID-19 // Automobilwoche — Vor dem Hintergrund der Corona-Krise: Branche hofft auf Lockerung der CO2-Ziele