Wo die Forderungen des „Wirtschaftswarntags“ zu kurz greifen

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Michael Neißendorfer
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  —  Lesedauer 3 min

Mehr als 100 Verbände und Unternehmen haben unter dem Slogan „Wirtschaftswarntag“ einen Zehn-Punkte-Plan vorlegt, wie die deutsche Wirtschaft wieder in Fahrt kommen kann. Mit Kundgebungen in Berlin, Hamburg, München, Stuttgart, Lingen (Ems) und zahlreichen dezentralen Aktionen in und von Betrieben wollen sie auf die laut ihrer Sicht „dramatische Lage der deutschen Wirtschaft“ aufmerksam machen und Druck auf die nächste Bundesregierung ausüben, sofort Reformen zu starten, so die Gruppe in einer aktuellen Mitteilung.

Mit einem Zehn-Punkte-Forderungspapier machen sich die Verbände für eine Wirtschaftswende stark: Dazu zählen unter anderem ein massiver Bürokratieabbau, Senkung von Steuern, Sozialabgaben und Energiepreisen, mehr Freihandelsabkommen und ein besserer Ausbau der Infrastruktur. „Die Bundestagswahl muss eine Wirtschaftswahl werden, wir brauchen eine Wirtschaftswende – jetzt“, schreiben die Verbände und Unternehmen. Dazu gehören aus ihrer Sicht folgende Punkte:

  1. Ein umfassender, alle bisherigen Versuche weit übersteigender Bürokratieabbau.
  2. Steuersenkungen für Unternehmen und Arbeitnehmer mindestens auf den EU-Durchschnitt.
  3. Eine Rückkehr zur Obergrenze der Sozialabgaben von 40 Prozent.
  4. International wettbewerbsfähige Energiepreise für alle Unternehmen in Deutschland.
  5. Konzentration auf den EU-Emissionshandel als zentrales klimapolitisches Instrument und vollständige Rückgabe der Einnahmen an Bürger und Unternehmen.
  6. Ein Arbeitsrecht, das Unternehmern und Arbeitnehmern viel mehr Flexibilität ermöglicht.
  7. Eine Infrastruktur- und Dienstleistungsoffensive: Straße, Schiene, Wasserstraße, digitale Administration müssen europäische Spitze werden.
  8. Die Staatsaufgaben müssen neu priorisiert werden, um Spielräume für mehr Infrastrukturausgaben und Steuersenkungen zu schaffen.
  9. Freihandel muss gestärkt, weitere Freihandelsabkommen müssen geschlossen werden.
  10. EU und Euro müssen als Garanten für den deutschen Wohlstand erhalten bleiben, aber die EU-Institutionen und -Zuständigkeiten bedürfen einer Aufgaben- und Organisationskritik. Deutschland müsse wieder ein attraktiver Standort für Investoren und ausländische Fachkräfte werden. Soziale Marktwirtschaft funktioniere nur mit Freiheit, innerer und äußerer Sicherheit, und auch nur mit Vielfalt. Deshalb wenden sich die Verbände und Unternehmen zugleich gegen jede Form von Ausgrenzung, Rassismus und Antisemitismus.

„Der Aufruf der Unternehmensverbände enthält zahlreiche richtige Forderungen“, sagt Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW. Er verweist aber auch darauf, dass der Wirtschaftswarntag der Versuch einiger Unternehmenslobbys sei, „ihren eigenen Interessen im Bundestagswahlkampf noch mehr Gewicht zu verleihen. In einer Demokratie ist das legitim“, so der DIW-Präsident. Die Forderungen hätten allerdings auch drei zentrale Schwächen.

„Die Unternehmensverbände weigern sich, Verantwortung für das eigene Handeln und die eigenen Fehler zu übernehmen. An keiner Stelle des Aufrufs wird auf die eigene Verantwortung verwiesen und ein Umdenken angemahnt“, kritisiert Fratzscher. Die deutsche Wirtschaft werde die Transformation nicht erfolgreich bewältigen, wenn die Unternehmen lediglich Forderungen an die Politik stellen. „So ist beispielsweise die Misere in der Automobilbranche in den letzten 15 Jahren nicht primär durch die Politik, sondern durch das Management der Unternehmen verursacht worden“, so Fratzscher. Zudem seien „viele Unternehmen zu langsam bei der Digitalisierung, die Arbeitsproduktivität ist zu niedrig“.

Der Ruf der Unternehmenslobbys nach mehr Geld vom Staat sei verständlich. „Sie scheinen dies jedoch auf Kosten der Arbeitnehmer zu fordern, da sie von einer Verschiebung der Prioritäten sprechen und die Antwort schuldig bleiben, wie die Hilfe des Staates finanziert werden soll“, ordnet Fratzscher ein. Dabei bräuchten auch viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringen und mittleren Einkommen eine finanzielle Entlastung.

Die Unternehmensverbände liegen zudem laut Ansicht des DIW-Präsidenten falsch, wenn sie mehr nationale Alleingänge fordern. „Wir benötigen eine Stärkung europäischer Institutionen und eine Ausweitung europäischer Kompetenzen, die Vollendung der Kapitalmarktunion und in vielen Bereichen ein gemeinsames europäisches Vorgehen“, sagt Fratzscher. Und stellt klar: „Zur Wahrheit gehört auch, dass kein Staat in Europa in den vergangenen fünf Jahren Unternehmen mehr Hilfe zukommen ließ als Deutschland.“

Quelle: Wirtschaftswarntag – Pressemitteilung vom 27.01.2025 / DIW – Pressemitteilung vom 29.01.2025

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Michael Neißendorfer

Michael Neißendorfer

Michael Neißendorfer ist E-Mobility-Journalist und hat stets das große Ganze im Blick: Darum schreibt er nicht nur über E-Autos, sondern auch andere Arten fossilfreier Mobilität sowie über Stromnetze, erneuerbare Energien und Nachhaltigkeit im Allgemeinen.
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