Volkswagens Stammwerk Wolfsburg steckt in einer Krise. Corona und der Chipmangel haben die Auslastung in die Knie gezwungen. Statt einer Million Fahrzeuge pro Jahr, wie noch vor wenigen Jahren angekündigt, laufen aktuell nicht einmal die Hälfte davon vom Band. Management und Betriebsrat sind im geschäftigen Alarmmodus unterwegs – und die Belegschaft dümpelt seit Wochen und Monaten in Kurzarbeit herum.
Volkswagen-Konzernchef Herbert Diess und Markenchef Ralf Brandstätter haben deshalb in der vergangenen Woche die gut 120 Top-Manager in Wolfsburg zu einer Krisensitzung versammelt. Dabei ging es um Wesentliches: Volkswagen produziere zu langsam und zu teuer, wenn man den Vergleich mit Innovatoren wie Tesla und den aufstrebenden Herstellern aus China wagt. VW braucht mit mehr als 30 Stunden gut dreimal so lange, um ein Elektroauto wie den ID.3 zu bauen, wie der E-Auto-Primus Tesla, der sein Model 3 innerhalb von gut zehn Stunden fertigt. Und bei der Qualität haben die Kalifornier wie auch die Chinesen mittlerweile europäische Standards erreicht. Das setzt Volkswagen massiv unter Druck, zumal Tesla in wenigen Wochen sein erstes Werk in Europa einweihen wird, die Gigafactory Berlin.
Bleibe alles beim Alten, so die warnenden Worten von Diess, sei VW auf dem Weltmarkt nicht mehr wettbewerbsfähig. Das zeigt sich etwa bei den Verkaufszahlen des ID.4, der in China einen schweren Stand hat und sich nur schleppend verkauft. Die Einheimischen – laut der Unternehmensberatung Kearney mehr als 70 Prozent – kaufen ihre Premiumautos künftig lieber bei Herstellern aus der Heimat, die ebenfalls gute Qualität mit meist umfangreicherer Ausstattung bieten, und das zu günstigeren Preisen.
Und ausgerechnet in Wolfsburg, der Heimat von VW, zeigt sich, wie sehr der Hersteller wichtige Zukunftsthemen wie die Elektromobilität und die Digitalisierung verschlafen hat. Konzernchef Diess und Markenchef Brandstätter sprechen daher von einer Revolution, wenn sie den Umbau des Stammwerks meinen. Der soll radikaler als bislang geplant ausfallen, heißt es aus Wolfsburg. Gebäude sollen abgerissen werden und Neubauten weichen, die Abläufe in der Produktion sollen effizienter werden.
Bislang galt das Projekt Trinity als Zukunftshoffnung für Wolfsburg: Eine E-Limousine, die neue Standards setzen soll bei Reichweite, Ladegeschwindigkeit, Digitalisierung sowie der Produktion. Der Marktstart allerdings ist erst für 2026 geplant. Und die Konkurrenz ist VW schon jetzt voraus und wird die kommenden Jahre sichlich nicht verschlafen.
Diess betont zwar weiterhin, wie wichtig das Fahrzeugmodell ist: „Trinity muss den Standort auf ein neues Wettbewerbsniveau heben, muss ihn revolutionieren. Auch mit neuen Prozessen.“ Das bisher erreichte und geplante findet der Vorstand allerdings nicht radikal und innovativ genug, heißt es aus Wolfsburg. Es gehe am Ende auch um Arbeitsplätze, so Konzernchef Diess: „Über die Arbeitsplätze entscheiden nicht der Herr Diess oder der Aufsichtsrat oder die Belegschaftsvertreter. Darüber entscheidet der Kunde und der Kunde kauft das Produkt, das mehr Qualität, mehr Features für einen besseren Preis bietet. Deshalb müssen wir den Kampf aufnehmen“.
VW-Betriebsrat fordert ein weiteres Elektromodell für Wolfsburg deutlich vor Trinity
„Der Standort braucht einen rascheren Weg in die E-Mobilität“, forderte die Gesamt- und Konzernbetriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo am Tag nach dem Managertreffen, zu dem Diess und Brandstätter geladen hatten. So ließen sich bestehende Auslastungszusagen besser erfüllen und der Standort aus der Krise holen. Cavallo und ihr Stellvertreter Gerardo Scarpino verweisen in einer aktuellen Mitteilung auf die besorgniserregende Situation im Stammwerk. Der Fabrik droht aktuell im zweiten Jahr in Folge ein seit der Nachkriegszeit historisches Produktionstief. Vergangenes Jahr kam die Fabrik nur auf knapp eine halbe Million Fahrzeuge. Dieses Jahr, ebenfalls geprägt von massiver Kurzarbeit, dürften es noch einmal weniger werden.
Damit unterschreitet das Stammwerk nicht nur den jüngsten Zehn-Jahres-Durchschnitt von knapp 780.000 Autos pro Jahr erheblich. Auch die mit dem Unternehmen vereinbarten Auslastungszusagen liegen weit davon entfernt: So hatte der Vorstand mit dem Ende 2016 beschlossenen Zukunftspakt für das Jahr 2020 eine Auslastung von mindestens 820.000 Fahrzeugen im Stammwerk garantiert. Mitte 2018 stellte der Vorstand dann sogar die magische Zahl von einer Million Fahrzeuge in Aussicht.
Das Leuchtturm-Projekt Trinity wird das Blatt laut Meinung des VW-Betriebsrats auch nicht wenden können. „Es ist an der Entwicklung der Zahlen schon abzusehen, dass der Trinity zur Auslastung des Werkes nicht ausreichen wird“, sagt Scarpino. Und Cavallo betont, dass der Standort nicht nur einen deutlich rascheren Weg in die E-Mobilität brauche. Wolfsburg brauche weiterhin auch ein „volumenfähiges Modell“, um bestehen zu können. Aktuell laufen in Wolfsburg ebensolche Volumenmodelle vom Band: Die Verbrennerversionen von Bestellern wie dem Golf und dem Kompakt-SUV Tiguan.
Wie es mit Wolfsburg weitergeht, dürfte der Abschluss der Planungsrunde Nummer 70 in etwa sechs Wochen zeigen, welche die Investitionen in die weltweiten Konzernstandorte festgelegt. Deren Beschlüsse reichen bis in die zweite Hälfte des Jahrzehnts. Und dürften deutlich elektromobiler ausfallen, als bislang vorgesehen.
Quelle: Business Insider – „Kampf gegen Grünheide“: VW will sein Stammwerk in Wolfsburg radikal umbauen, um gegen Tesla und die Konkurrenz aus China zu bestehen / Volkswagen – Pressemitteilung vom 01.10.2021 / Frankfurter Allgemeine Zeitung – Im Wolfsburger VW-Werk geht die Angst um