Wie im Koalitionsvertrag festgehalten, wird das Straßenverkehrsgesetz (StVG) demnächst so angepasst, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs künftig auch die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden. Diese werden nun als eigenständige Anordnungszwecke verankert. Hierdurch sollen Ländern und Kommunen größere Entscheidungsspielräume eröffnet und der Straßenverkehr verträglicher gestaltet werden, was etwa die Einrichtung von Tempo 30 Zonen, bessere und sicherere Radwege sowie Sonderfahrspuren für Elektroautos umfasst.
Dafür haben Bundesrat und Bundestag Ende der vergangenen Woche im Vermittlungsausschuss die kurz zuvor getroffenen Einigungsvorschläge beschlossen. Mit der Novellierung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes (BSWAG) wird zudem eine erweiterte rechtliche Grundlage geschaffen die überlastete Schiene zu modernisieren – und massiv Mittel in die Bahn zu investieren. Damit sei der Weg frei für das größtes Sanierungs- und Modernisierungsprogramm der letzten Jahrzehnte.
„Wir haben nun eine Einigung, die den Interessen der Länder und des Bundes gerecht wird. Mit der Gesetzesänderung wollen wir das Straßenverkehrsgesetz den Bedürfnissen einer modernen Verkehrsplanung anpassen, indem neue Ziele aufgenommen werden. Wir vermeiden damit Bürokratie und erweitern die Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen, ohne die Interessen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zu vernachlässigen“, kommentiert Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing.
Länder und Kommunen hatten in der jüngeren Vergangenheit vermehrt um größere Handlungsspielräume bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen im Bereich des Straßenverkehrs gebeten. Aufgrund der verweigerten Zustimmung des Bundesrates (am 24. November 2023) konnte die diesbezügliche Gesetzgebung der Bundesregierung nicht abgeschlossen werden. Auch für die parallel stattfindende Novellierung der Straßenverkehrs-Ordnung, die ebenfalls der Umsetzung des Koalitionsvertrages dient, aber auch weitere straßenverkehrsrechtliche Änderungen enthält, ist das Inkrafttreten der StVG-Änderungen erforderlich.
Der vorliegende Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses besteht darin, dass bei den neuen Anordnungszwecken (Umwelt- und Klimaschutz, städtebauliche Entwicklung sowie Gesundheitsschutz) nach wie vor die Leichtigkeit des Verkehrs berücksichtigt werden muss und die Sicherheit des Verkehrs – wie nun ausdrücklich festgeschrieben wird – „nicht beeinträchtigt“ werden darf, wie es im Gesetzestext heißt. Zuvor musste die Sicherheit des Verkehrs nur „berücksichtigt“ werden. Mit der jetzigen Formulierung werde die Tatsache, dass die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs nicht beeinträchtigt werden darf, ausdrücklich betont, so das BMDV.
Die Änderungen des neuen Entwurfs im Einzelnen:
- Nach der bisherigen Rechtslage sind Verordnungen zum Umweltschutz durch straßenverkehrliche Anordnungen möglich, wenn dieser als Nebenzweck verfolgt wird. Künftig sollen der Umweltschutz, darunter Klimaschutz, sowie die städtebauliche Entwicklung und die Gesundheit als eigene Regelungszwecke festgeschrieben werden.
- Die Leichtigkeit und Sicherheit des Straßenverkehrs bleiben dabei als eigene Regelungszwecke erhalten. Wird von den neuen Regelungszwecken Gebrauch gemacht, darf es nach dem nunmehr vorliegenden Regelungsentwurf außerdem ausdrücklich nicht zu Beeinträchtigungen der Straßenverkehrssicherheit kommen und auch die Leichtigkeit des Verkehrs muss stets berücksichtigt werden. Es bleibt also dabei, dass ein Gericht eine Anordnung aufheben kann, falls eine Behörde eine Anordnung trifft, die gegen die vorgenannten Anforderungen verstößt.
- Es wird zudem klargestellt, dass Gemeinden bei den nach Landesrecht für die Ausführung der Rechtsverordnungen bestimmten Behörden den Erlass von Anordnungen zur Gewährleistung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, zur Verbesserung des Schutzes der Umwelt (einschließlich des Klimaschutzes), zum Schutz der Gesundheit oder zur Unterstützung der städtebaulichen Entwicklung beantragen können. Dies ist zwar schon heute möglich, soll aber nunmehr in den aufgrund der neuen Ermächtigung erlassenen Rechtsverordnungen im Interesse der Klarheit des Verwaltungsverfahrens ausdrücklich geregelt werden. Dazu sollen in den Rechtsverordnungen entsprechende Bestimmungen vorgesehen werden.
- Außerdem werden zwei konkrete Ermächtigungen ergänzt: Sie erlauben die Parkraumbewirtschaftung auch bei absehbarem und nicht nur vorhandenem Parkraummangel sowie Sonderfahrspuren für neue Mobilitätsformen, zum Beispiel Elektroautos.
Bevor das Gesetz konkrete Auswirkungen hat, muss das StVG in die Straßenverkehrsordnung (StVO) überführt werden. Das soll Anfang Juli passieren. In der Verkehrsplanung werden dann erstmals Klima- und Umweltschutz, Gesundheit und städtebauliche Entwicklung den beiden früheren Zielen Leichtigkeit und Sicherheit gleichgestellt.
„Ein Weg für mehr Lebensqualität“
„Die Reform des Straßenverkehrsgesetzes ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einem modernen Straßenverkehrsrecht – es wird aber nicht die letzte sein“, kommentiert Christian Hochfeld, Direktor von Agora Verkehrswende. Mit der neu gefundenen Formulierung werde das Ziel der Sicherheit des Verkehrs etwas stärker betont, zugleich bleibe der Grundgedanke der Reform unverändert: „Neben der ‚Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs‘ sind im Straßenverkehrsrecht nun auch die Ziele des Umwelt- und Klimaschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung maßgebend.“
Hochfeld drängt darauf, das neue Straßenverkehrsgesetz nun zügig in die StVO zu gießen: „Dieser Kompromiss sollte möglichst noch vor der Sommerpause beschlossen werden, um keine weitere Zeit zu verlieren. Viele Kommunen warten darauf, sich auf einer neuen Rechtsgrundlage für lebenswertere Städte und Gemeinden einsetzen zu können. Mit der geplanten StVO-Novelle könnten sie schon an einigen Punkte ansetzen“. Der Direktor von Agora Verkehrswende hebt auch die Vorteile des neues Gesetzes besonders hervor: „Eine konsequente Ausrichtung der StVO an den erweiterten Zielen des neuen Straßenverkehrsgesetzes ebnet nicht nur den Weg für mehr Lebensqualität, sie sorgt auch für mehr Rechtssicherheit und führt damit zur Entlastung der Verwaltungen und zu weniger Bürokratie.“
„Es war höchste Zeit, dass das angestaubte Straßenverkehrsgesetz endlich in der komplexen Verkehrsrealität von heute ankommt und Möglichkeiten für eine klima- und menschenfreundliche Gestaltung der Straßen eröffnet“, kommentiert ADFC-Bundesgeschäftsführerin Caroline Lodemann. „Mit der Reform werden Kommunen in der Lage sein, geschützte Radfahrstreifen, Fahrradstraßen und mehr Tempo 30 einzurichten und so zügig die zahllosen Lücken im Radwegenetz zu schließen, ohne durch Bürokratie ausgebremst zu werden. Jetzt geht es darum, die Straßenverkehrs-Ordnung und die technischen Regelwerke ebenfalls auf Klimakurs zu bringen.“
Der ADFC kritisiert jedoch, dass auch im neuen StVG ein klares Bekenntnis des Gesetzgebers zur Vision Zero fehlt. Und das, obwohl das Ziel eines Verkehrs ohne Tote und Schwerstverletzte ausdrücklich das Leitbild des Verkehrssicherheitsprogramms des Bundes sei. Damit fehle ein eindeutiger Maßstab dafür, was mit dem Ziel Verkehrssicherheit im StVG überhaupt gemeint ist. Eine Reduzierung der Blechschäden beispielsweise reiche dafür nicht aus, so der ADFC. Lodemann: „Die Sicherheit der ungeschützten Verkehrsteilnehmenden – also der Kinder und Erwachsenen, die zu Fuß gehen oder mit dem Rad unterwegs sind – muss höchste Priorität im Verkehrsrecht haben.“
„In keinem anderen Bereich würde man Tote und Verletzte in dieser Größenordnung hinnehmen“
Schon seit gut 20 Jahren fordert der ökologische Verkehrsclub VCD die Vision Zero: Kein Mensch soll im Verkehr sein Leben verlieren oder schwer verletzt werden. Doch dieses Ziel ist noch lange nicht erreicht. Zwar hat sich seit 2004 die Zahl der Verkehrstoten pro Jahr nahezu halbiert, aber noch immer sterben jedes Jahr fast 3000 Menschen auf deutschen Straßen. Der VCD fordert eine Reihe von Reformen, um dies zu ändern.
Insgesamt sind seit 2004 in Deutschland 75.000 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen. Im gleichen Zeitraum wurden 7,8 Millionen Menschen im Verkehr verletzt, das sind fast zehn Prozent der Bevölkerung. „In keinem anderen Bereich würde man Tote und Verletzte in dieser Größenordnung hinnehmen“, sagt Kerstin Haarmann, Bundesvorsitzende des VCD. „Wer hinter den Zahlen die Schicksale von Unfallopfern und ihren Angehörigen sieht, kann nur eine akzeptable Zahl an Verkehrsopfern ableiten: Null!“ Deshalb vertritt der VCD seit 20 Jahren das Konzept ‚Vision Zero – Null Verkehrstote‘ und fordert von Bund und Ländern konkrete Reformen statt regelmäßiger Lippenbekenntnisse.
Die aktuelle Reform des Straßenverkehrsgesetzes sei dabei ein wichtiger Schritt, so Haarmann, aber er reiche bei Weitem nicht aus: „Die Vision Zero muss im ganzen Straßenverkehrsrecht verankert werden, auch in der StVO. Erst dann haben Kommunen wirklich den nötigen Spielraum, den Verkehr nach Sicherheitsaspekten zu regeln, und können den Rad- und Fußverkehr hinreichend schützen.“
Entscheidend für mehr Sicherheit sei auch eine Entschleunigung des Verkehrs. Der VCD fordert daher besonders harte Tempolimits: Tempo 120 auf Autobahnen und 80 auf der Landstraße. Innerorts soll Tempo 30 die Regel werden – mit begründeten Ausnahmen für Tempo 50. „Tempolimits retten nicht nur Leben“, sagt Kerstin Haarmann. „Sie schonen auch Klima und Umwelt.“
Haarmann betont jedoch, dass Vision Zero mehr sei als ein Bündel von Einzelmaßnahmen: „Vision Zero basiert auf einem grundsätzlichen Umdenken, sie ist ein umfassendes Handlungskonzept. Wie wirksam das sein kann, zeigt das Beispiel Schweden, das derzeit pro einer Million Einwohner auf etwa 20 Verkehrstote kommt. In Deutschland sind es 34. Und in der finnischen Hauptstadt Helsinki gab es 2019 noch drei Tote durch Unfälle – dort ist das Ziel zum Greifen nah.“
Quelle: BMDV – Pressemitteilung vom 14.06.2024 / Agora Verkehrswende – Pressemitteilung vom 14.06.2024 / ADFC – Pressemitteilung vom 14.06.2024 / VCD – Pressemitteilung vom 14.06.2024