Die Automobilindustrie erlebt angesichts der Branchentransformationen eine Phase paradigmatischen Wandels, die auch zu weitreichenden Veränderungen der Innovationsstärke von Automobilunternehmen führen. Auf Basis von rund 1000 Innovationen des jährlichen Analysezeitraums 2023/2024 zeige sich eine umbruchartige Verschiebung der Innovationskraft zugunsten chinesischer Automobilhersteller, so das Center of Automotive Management (CAM) in seiner aktuellen Auswertung.
Unter den Top-10 der innovationsstärksten Automobilgruppen befinden sich erstmals 5 chinesische Automobilkonzerne. BMW behauptet sich als innovationsstärkster Automobilkonzern des aktuellen Jahres knapp vor den chinesischen Automobilkonzernen Geely und SAIC, die auf Rang 2 bzw. 3 landen. Insgesamt entfällt auf die Gruppe der chinesischen Automobilhersteller im aktuellen Jahr ein Rekordanteil von 46 Prozent der globalen Innovationsstärke (Innovationen, die in Serie verfügbar sind) des Samples von 30 Konzernen mit mehr als 100 Automobilmarken, während im Jahr 2019 dieser Wert noch bei 21 Prozent lag.
Umgekehrt sinkt die Innovationsstärke der deutschen Automobilhersteller von 45 Prozent im Jahr 2019 auf aktuell nur noch 23 Prozent. Hierbei zeigt sich auch ein klarer regionaler Unterschied in der Innovationsgeschwindigkeit: Zwar konnten die deutschen Hersteller die Zahl Ihrer Innovationen im Vergleich zum Vorjahr um acht Prozent steigern; die Zahl der chinesischen Innovationen nahm im selben Zeitraum allerdings um 32 Prozent zu. Das China-Tempo ist bei der Entwicklung von Innovationen also wesentlich höher als das Deutschland-Tempo.
„Wir erleben in der globalen Automobilindustrie eine tektonische Verschiebung der Machtbalance“
Dies schlägt sich sogar noch stärker in der Innovationsstärke nieder, die bei deutschen Herstellern praktisch stagniere, bei den chinesischen Automobilherstellern jedoch ebenfalls um etwa ein Drittel ansteige, so das CAM. Hierzu Studienleiter Stefan Bratzel: „Wir erleben in der globalen Automobilindustrie eine tektonische Verschiebung der Machtbalance zugunsten chinesischer Automobilunternehmen, die immer stärker an der Innovationsstärke abgelesen werden kann. In den Zukunftsfeldern der Elektromobilität, des software-definierten Fahrzeugs und der Vernetzung haben chinesische Hersteller – auch mit Unterstützung des Staates und westlicher Zulieferer – zentrale Kompetenzen aufgebaut, auf deren Basis mit hoher Geschwindigkeit bereits innovative Serienfahrzeuge gebaut werden. Für die etablierten Hersteller gilt es gegenzuhalten. Gerade für Automobilkonzerne am Standort Deutschland ist das eine große Herausforderung: Sie müssen mindestens so viel innovativer sein, wie sie teurer sind.“
Die US-amerikanischen Hersteller verlieren insgesamt noch stärker, da sowohl die Zahl der Innovationen als auch die Innovationsstärke um rund ein Drittel sinkt. Für den Rückgang im Vergleich zum Vorjahr seien vor allem General Motors und Ford verantwortlich. Dagegen schneidet Tesla bei der Zahl der Innovationen sowie der Innovationsstärke etwas besser ab. Allerdings erreicht Tesla nicht mehr das Innovationsniveau der letzten Jahre und kommt aktuell nur auf Platz 13 (Vorjahr: Rang 15), während GM und Ford nur noch Rang 15 (6) bzw. 16 (5) erreichen.
Bei den Japanern geht es seit einigen Jahren mit ihrer Innovationsstärke bergauf, wenn auch auf niedrigem Niveau. Vor allem Toyota macht Boden gut und verbessert sich aktuell von Rang zehn auf Platz vier, noch vor der Mercedes-Benz Group und dem VW-Konzern.
Konzern-Ranking: BMW vor Geely und SAIC
In der aktuellen Innovationsstudie erreicht die BMW Group auf Basis von 70 Serienneuerungen (darunter 27 Weltneuheiten) die höchste Innovationsstärke unter 30 Automobilgruppen und gewinnt damit erstmals den AutomotiveINNOVATIONS Award der innovativsten Automobilkonzerne. Mit einem Indexwert von 151 Punkten belegt der Münchner Konzern Rang eins, knapp vor den chinesischen Herstellern Geely (149,4 Indexpunkte) und SAIC (136,8).
BMW punktet, so das CAM, „mit einer breiten Innovationsleistung auf hohem Niveau in verschiedenen Technologiefeldern“. Hervorzuheben seien Weltneuheiten wie der Level 3 Staupilot im 7er, der erstmals auch bei Dunkelheit einsetzbar ist, der gestenbasierte Spurwechselassistent im 5er, der bereits durch Blick in den Seitenspiegel funktioniert oder Proactive Care, das AI-basiert Reparatur- und Wartungsbedarfe erkennt und den Kunden aktiv Lösungen anbietet. Gleichzeitig weise BMW auch starke Innovationsleistungen im Elektroauto-Bereich auf, etwa bei der Reichweite (Mini Cooper) oder Ladeleistung (i5). Gleichzeitig sei der Innovationstrend für das Folgejahr mit weiteren 20 Vorserien-Innovationen bzw. Studien – viele davon rund um die kommende Elektroauto-Generation der Neuen Klasse – stark überdurchschnittlich.
Die chinesischen Hersteller Geely und SAIC auf den Podiumsplätzen sowie Xiaopeng Motors (Xpeng, Rang 7) und BYD (Rang 8) zeigen sehr starke Innovationsleistungen in den Technologiefeldern Elektromobilität, Fahrerassistenzsysteme (ADAS) und Interfaces (Bedien-/Anzeigekonzepte), in denen sie mehr als 80 Weltneuheiten präsentieren. Im Bereich der Elektroautos generieren GAC, Geely, SAIC und Xpeng Segment-Rekorde vor allem bei Ladeleistung und Reichweite, etwa die höchste Ladeleistung im Van-Segment des Xpeng X9.
BYD, GAC, Nio, SAIC und Xiaopeng verfügen bereits über Level-2+-Systeme nicht nur auf Autobahnen und im Stau, sondern vielfach auch für städtische Gebiete, einige Weltneuheiten in ihren Segmenten stammen hierbei wiederum von XPeng im Van X9.
Besonders breit besetzen die chinesischen Hersteller das Thema Connectivity mit insgesamt 125 Serien-Innovationen im Jahr 2023. Hoch bewertete Innovationen hat z.B. Geely auf den Markt gebracht mit einer stark vergrößerten Augmented-Reality-Projektion oder der nahtlosen Verknüpfung vom Fahrzeug- mit dem Smartphone-Betriebssystem („Meizu Flyme“). SAIC präsentiert ein KI-basiertes Infotainment-System zur Verschmelzung von Realität und Virtualität („Shua“ im IM Motors LS7), außerdem mit der „Yep Car Watch“, ein interaktives Display außen am Fahrzeug zur Kommunikation mit der Umgebung.
Volkswagen verliert wegen Audi überdurchschnittlich stark
Auffällig aus deutscher Sicht ist neben dem guten Abschneiden von BMW vor allem der starke Rückgang bei Volkswagen. Der Wolfsburger Konzern kommt aktuell mit 85,9 Indexpunkten nur noch auf Rang sechs und büßt 44 Prozent seiner Vorjahrespunkte ein.
„Dass Volkswagen in diesem Jahr historisch schlecht abschneidet, hängt neben der aktuellen Innovationsschwäche der Konzernmarke Audi auch mit der Stärke anderer Player wie BMW und vor allem einiger chinesischer Hersteller zusammen – ein Trend, den wir schon seit mehreren Jahren beobachten“, kommentiert Studienleiter Stefan Bratzel. „Bemerkenswert ist auch die aktuelle Stärke von Toyota auf Platz vier – das beste Abschneiden des weltweit größten Automobilkonzerns seit 2017“, so der Branchen-Experte weiter.
Alle Daten stammen aus dem AutomotiveINNOVATIONS Report, den das CAM seit 2005 erstellt und jährlich aktualisiert. Die aktuellen Ergebnisse setzen sich aus 709 einzeln bewerteten Innovationen von 30 globalen Automobilherstellern und Newcomern mit rund 100 Automobilmarken zusammen, die bereits auf wichtigen globalen Märkten vor Kunde verfügbar sind, und weiteren 282 Vorserieninnovationen bzw. Studien. Die innovativsten Konzerne, Marken und Modelle zeichnet das CAM bereits seit 2012 mit dem AutomotiveINNOVATIONS Award in zehn Kategorien aus.
Quelle: CAM – Pressemitteilung vom 27.06.2024